Dienstag, 15. Oktober 2013

Die jüngste aller Weltreligionen

Die Liebe ist die Religion unserer Zeit. Die meisten Menschen halten ein Leben ohne Liebe für sinnlos. Immer wieder heißt es, dass es keine Tabus mehr gebe. In Bezug auf die Liebe trifft das nicht zu. Denn wer sich wagt, die Liebe zu kritisieren, wird sehr schnell ausgegrenzt und angegriffen. Dass es jemand wagt, das Wort gegen dies Heiligste, was Menschen kennen, zu erheben, wird nicht geduldet. Wer sich, zerfressen von Liebeskummer, von einer Brücke stürzt, gilt als jemand, der an einem zu tiefst menschlichen Problem zugrundegeht, wohingegen jemand, der mit kühlen Worten zum Ausdruck bringt, dass er dem allgemeinen Liebestaumeln nicht verfallen sei, schnell als Unmensch abgestempelt wird. Der an der Liebe leidende Mensch ist der Märtyrer der jüngsten aller Weltreligionen. Sein Schmerz ist der wahre Schmerz, der menschliche Schmerz. Wer hingegen gegenüber der Liebe eine ironische oder gar kritische Haltung einnimmt, gilt als Ketzer, als jemand, der die menschliche Sache verrät. Irgendetwas kann mit ihm nicht stimmen, er muss krank sein. "Wer so spricht, hat nie geliebt" - mit solchen und ähnlichen Aussagen sollen jene als lieb- bzw. gefühllos ausgegrenzt werden, die es wagen, nicht an die wunderwirkende Kraft der Liebe zu glauben. Sie gelten als herzlos, als kalte Spekulanten ihres Gefühlslebens. Gerne werden sie auch für krank erklärt, ihre Aussagen pathologisiert. Denn im Innersten sehne sich schließlich jeder Mensch nach der Liebe. Es ist klar, dass jemand, der auf diese Weise denkt, alle verurteilen muss, die es anders sehen. Menschen, die alleine leben, gelten als Unmenschen, als gescheiterte Existenzen, die man höchstens dann akzeptiert, wenn sie sich selbst als Suchende zu erkennen geben, als "Singles", also als solche, die auch an die Liebe glauben, sie aktuell aber nicht leben können. Alle anderen fallen aus der wahren Menschheit raus. Wahre Liebe, heißt es, überkommt den Menschen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie sei ein Gefühl, das spontan aus dem Herzen strömt, und das verdirbt, sobald es in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll. Der Verstand könne es nur zerstören. Die Religion der Liebe gebietet, dass sich der Mensch als gespaltenes Wesen betrachtet. In seinem Herzen erwächst das allein seligmachende Gefühl, während in seinem Kopf der rechnende Verstand regiert, der nur Unheil anrichten kann.

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