Donnerstag, 1. August 2013

Vom Ausbluten einer Abstraktion

Im Grunde ist es unredlich, über das Glück zu philosophieren. Jeder assoziiert mit diesem Begriff etwas anderes. Selbst wenn zwei Menschen behaupten, dass sie das Gleiche glücklich mache, ist damit noch lange nicht gesagt, dass auch ihr Glück identisch ist. Die Liebe zu einem Lied beispielsweise ist mit vielen anderen Facetten auf das Engste verknüpft: mit Erinnerungen, Wissen, musikalischen Präferenzen, Stimmungen und vielem mehr. Niemand hat eine reines, ein unverdorbenes Ohr, niemand hört ein Lied so, wie es ist, sondern nur so, wie er es hören kann. Wenn zwei Menschen sagen, dass sie das gleiche Lied inspiriere, könnte man annehmen, auch ihre Inspiration sei identisch. Fragt man sie jedoch, was sie an der Musik bewege, wird man verschiedene Antworten erhalten, die ihre eigentlichen Hörerlebnisse bestenfalls erahnen lassen. Oder ein anders Beispiel: Religiöse Menschen fühlen sich durch den Glauben an Gott verbunden. Zum Glück kann ihnen niemand in die Köpfe schauen, außer eben Gott selbst. Er würde sicher nicht schlecht staunen, wenn er sähe, in welch vielfältiger Form er sich in den Geistern der Menschen spiegelt. Jeder Mensch vermag nur an das Bild zu glauben, das er sich von seinem Gott gemacht hat. Deshalb kann ein religiöser Hetzer niemanden vorwerfen, dass er nicht an Gott glaubt. Denn kein Mensch kann an den gleichen Gott glauben wie ein anderer, das ist unmöglich.

Aber zurück zum Glück. Woher kommt eigentlich diese ungeheure Anmaßung, die Frage nach dem Glück für alle Menschen verbindlich beantworten zu wollen? Warum begnügen sich die Menschen nicht damit, sich an dem unverwechselbaren Aroma ihres Glücks zu erfreuen? Alle Weisheit ist schädlich, die nicht aus dem Leben selbst geschöpft, die nicht individuell und damit passgenau ist. Sich nach einem Buch zu richten, und sei es auch noch so verständig, erzeugt nur neue geistige Abhängigkeiten. Der Leser sucht sich selbst zwischen den Zeilen. Er freut sich, Gedanken zu lesen, die er bereits kennt, die er bisher aber nicht zu einer prägnanten Formel zu verdichten wusste. Solange wir lesen, können wir bestenfalls Bestätigung und Orientierung finden; es ist unmöglich, sich selbst mithilfe eines Wusts von Abstraktionen zu verstehen. Was könnte hilfloser sein, als der Versuch, der eigenen Individualität durch eine Besinnung darauf, was der Mensch sei, auf die Spur zu kommen? Der allgemeine Mensch verpflichtet zu nichts, er bleibt eine verschwommene Figur, ein einziges großes Ungefähr. Wir sollten uns eingestehen, dass Menschen verschieden und nur im Plural zu haben sind und dass uns deshalb egal sein kann, was den allgemeinen Menschen glücklich macht. Sicherlich gibt es Eigenschaften, die bestimmte Menschen gemein haben und die sie von anderen unterscheiden. Diese können Orientierung bieten. Daher wäre zu überlegen, ob nicht jeder Autor, der über ein essentielles Thema wie das Glück schreibt, dem Leser nicht ein paar Hinweise auf seine Person mitgeben sollte. Ist er eher introvertiert oder ein Partymonster? Lebt er allein oder hat er eine Familie? Woran glaubt er und wie? Welche Krankheiten oder psychischen Störungen haben sein Leben begleitet? Aus was für einer Familie stammt er? Die nichtssagende Feststellung, dass die Philosophen sich nicht darauf haben einigen können, was das Glück denn nun sei, könnte durch die Bemerkung ersetzt werden, dass jede ihrer Antworten richtig war, wenn sie sie nur nicht verallgemeinert hätten. Wir sollten ehrlicher sein. Auch ich tue ja nur so, als ob ich über das Glück schriebe, obwohl ich in Wahrheit nur mein eigenes biographiere.

1 Kommentar:

  1. Hmmm. Ein Text, gefüllt mit äusserst vielen, interessanten Gedanken, so, dass ich gar nicht weiss wo genau ich denn beim Kommentieren anfangen soll.
    Vielleicht bei dem Gedanken, dass kein Mensch an den gleichen Gott glauben kann. Interessant, denn über ein ähnliches Thema hatte ich gerade letztens eine äusserst interessante Diskussion.
    Vielleicht sollte man nebenbei erwähnen, dass ich selbst überzeugte Atheistin und "die Menschheit ist dumm und stirbt eines Tages an ihrer eigenne Dummheit"-istin bin.
    Im christlichen Glauben (und wahrscheinlich nicht nur da), sagt man, man soll sich kein Bild von Gott machen.
    Wieso? Weil Gott in den monotheistischen Religionen nicht als Teil der Natur, sondern als etwas übernatürliches, spirituelles angesehen wird - und etwas übermenschliches, dass kein Wesen ist, kann man nicht bildlich definieren.
    Dann nehmen wir den Fakt, den du erwähnt hast, dazu, dass jeder sich trotzdem ein Bild gemacht hat. Es ist wie bei "Stell dir jetzt auf keinen Fall einen pinken Elefanten in violetter Spitzenunterwäsche vor". Anders geht's nicht.
    Und wo sind wir jetzt?
    Genau. Bei Nietzsche. Gott ist tot. Ich liebe Nietzsche. Bitte nicht falsch verstehen. Ich halte nichts von Nekrophilie.

    Natürlich ist Glück subjektiv. Und auch nicht ewig. Es gibt kein grosses, allgemeines Glück. Die Bedeutung davon ändert sich doch ständig.
    Wenn ich eine Zigarette geraucht habe, fühle ich mich glücklich.
    Dann erinnere ich mich an meine Handyrechnung. Oder sowas ähnliches.
    Was einen anderen glücklich macht, muss nicht unbedingt auch mich glücklich machen. Es zu verallgemeinern ist Blödsinn.

    Und jetzt gerade würde ein starker Kaffee mich glücklich machen. Adios!





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