Samstag, 13. Juli 2013

Pure Beauty

Alexa war ein liebes Mädchen. Wenn sich der Vorhang hob, bestand ihre einzige Sorge darin, dass sie den Ton nicht treffen könnte. Sie übte fleißig; ihre Eltern unterstützten sie dabei. Keine Frage, sie hatte Talent. Ihre Stimme war zart und angenehm. Sie hätte überall auftreten können. In Einkaufszentren und auf Volksfesten. Wie so viele andere Mädchen auch, die Sängerin werden wollen. Weniges in der Welt könnte schneller vergehen, als das Lächeln, das mir ihre Auftritte auf's Gesicht gezaubert haben. Man konsumiert sie und vergisst sie. Viel mehr lässt sich zu Alexa nicht sagen.

Ganz anders Dark Pussy. Sie musste sich nicht vorstellen, wie es ist, traurig zu sein, um ein trauriges Lied zu singen. Man brauchte sie nur anzusehen und schon erahnte man die halbe Geschichte ihres Lebens. Noch nie hatte ich ein so verletzliches und verletztes Wesen gesehen. Ständig schwankte sie zwischen überdreht-explosiver Fröhlichkeit und völligem In-sich-Versenktsein auf ihren dürren Beinen hin und her. Nie wusste man, was sie als nächstes anstellen würde. Aber aus irgendwelchen Gründen musste man sie lieben. Irgendetwas war bei ihr zerstört oder zumindest sehr durchlässig geworden, das andere vor dem Dreck dieser Welt schützt. Wie eine offene Wunde kam sie mir vor. Ich fühlte mich beinahe schuldig, sie auch nur anzusprechen, so zerbrechlich wirkte sie auf mich. Doch sobald sie die Bühne betrat, verwandelte sie sich. Noch heute kann ich nur mit Gänsehaut über jene wundersamen Metamorphosen sprechen, deren Zeuge ich damals sein dürfte. Ihr Gesang war herb und düster, dann wieder zart und heiter. Mit einer überirdischen Sicherheit und Kraft gab sie allem Ausdruck, was sonst nur dunkel und in Schweigen getaucht auf dem Grunde ihrer kranken Seele wohnte. Pure Beauty. Perfektion. Sie suchte die richtigen Töne nicht; sie drängten zu ihr und wollten durch ihren brüchigen Mund ins Leben treten. Dank Dark Pussy ist mir klar geworden, was das Talent vom Genie trennt. Es sind nicht Grade oder feine Übergänge, sondern ein anderes Sein, eine andere Intensität

Alexa fühlte sich als Sängerin, aber nicht nur. Nach den Vorstellungen war sie wieder ein glückliches Mädchen, das mit ihrem Hund rausging oder an Jungs dachte. Sie musste improvisieren, wenn sie vor Publikum sang. Etwas darstellen. Dark Pussy musste niemals improvisieren und sie fürchtete auch nicht, dass ihr etwas misslingen könnte. Auf der Bühne fühlte sie sich geborgen wie ein Embryo im Mutterleib. Das Leid, von dem sie sang, war ihr Leid. Sie hatte keine Wahl; sie musste ihr Lied singen, ihre eigenen Verse, geschrieben mit ihrem eigenen Blut. Große Künstler spielen nicht mit Masken; sie finden durch die Kunst erst zu sich. Als Künstler sind sie wahrere, lebendigere Menschen, als sie es sonst, im sogenannten wirklichen Leben je sein könnten. Wer meint, Kunst sei nur schöner Schein, nur glitzerndes Wellenspiel auf einem tiefem Meere, der hat nur Mädchen wie Alexa in den Supermärkten dieser Welt auftreten sehen.


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