Sonntag, 30. Juni 2013

Noch einmal das Glück

Es hat auch Vorteile, dass wir durch Sprache niemals auszudrücken vermögen, was wir fühlen. Denn daraus folgt, dass die Unglücklichen immer nur erahnen können, was es hieße, glücklich zu sein. Sie wissen nicht, was ihnen eigentlich fehlt. So bleibt ihnen wenigstens das Refugium der Zufriedenheit.

Jedem Glück ist immer auch etwas Unerwartetes und Überraschendes beigemeischt. Wenn all unsere Träume in Erfüllung gingen, wären wir deshalb noch lange nicht glücklich. Dann wäre lediglich eine Kalkulation aufgegangen. Glücklichsein bedeutet auch, dass Träume wahr werden, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie je träumten. Nur das Unerwartete befriedige vollkommen, schreibt Dávila. 
  
Auch wenn man nicht glücklich ist, sollte man sich doch immer auf die Seite derer stellen, die es sind. Um an dem Glück anderer nicht zu zerbrechen, bleibt uns nur ein Weg offen, nämlich der Weg der Mitfreude.




Samstag, 29. Juni 2013

Allzu irdisch

Die meisten Aliens, denen ich bisher begegnet bin, schätzen den Buddhismus sehr. Abgesehen von einigen metaphysischen Implikationen, die sie als allzu irdisch empfinden, freuen sie sich sehr darüber, dass diese Lehre das Leid aller leidensfähigen Wesen berücksichtigt. Damit können sie etwas anfangen. Über den Provinzialismus etwa eines Christentums, das den Menschen als die Krone der Schöpfung ansieht, können sie nur lachen. Aber sie sind auch nachsichtig, wissen sie doch, dass die meisten Rassen, die auf ihren Planeten die Vorherrschaft erlangen, zunächst davon ausgehen, etwas im Universum Einzigartiges zu sein. Dank den Aliens denke ich heute besser über die Menschen, denn mir ist bewusst geworden, dass nicht nur die liebe Affenbande, der ich angehöre, Unheil anrichten kann. Es scheint vielmehr dem natürlichen Gang der Dinge zu entsprechen, dass eine Rasse massive Probleme verursacht, sobald sie zu erkennen beginnt. Die Aliens betrachten die ökologische Bewegung auf der Erde mit anderen Augen. Sie deuten sie als den ersten ernstzunehmenden Versuch der Menschen, den notwendigen Ausgleich mit der Natur zu finden. Ähnliches habe sich schon auf vielen Welten ereignet.

Wenn ich nachts nicht schlafen kann, gehe ich gern spazieren. Der Anblick der Sterne stimmt mich fröhlich. Die Begegnungen mit den Aliens haben mich der allzu irdischen Weisheit schon arg entfremdet. Ich fühle mich als Kind des Universums, das seine Aufgabe darin sieht, den Bund zwischen allen Wesen vorzubereiten. Oft erwische ich mich dabei, wie ich mein Leben aus einer kosmischen Perspektive betrachte. Das wird sich wohl nicht noch einmal ändern. "Habe Vertrauen in die Menschen." Sie werden nie müde, mich aufzumuntern. Ich liebe sie. Doch wem könnte ich von ihnen erzählen? Mir glaubt ja doch keiner. Deswegen brauche ich diese Begegnungen auch nicht zu verheimlichen. Eine Wahrheit, die einem keiner abnimmt, kann man ohne weiteres aussprechen, weil sie für eine Lüge gehalten wird. Oder ein Spaß ...

Dienstag, 25. Juni 2013

Erntezeit

Sollte ich mich schämen, weil ich an die unendliche Schönheit einer jeden menschlichen Seele glaube? Ich kann es nicht mehr. Ich fühle so viele gute Dinge in mir reif werden. Jetzt ist Erntezeit. So viele Winterschlafe und Einsamkeiten hatte mein jung gealtertes Herz an irgendeinem verborgenen, von mir und der Welt schon fast vergessenen Ort zugebracht; doch all die Zeit hindurch reifte es, so wie ein guter Wein reift. Wen sollte es also verwundern, dass mein Glück anders schmeckt als das, was den meisten Menschen süß auf der Zunge liegt? Was mir auch widerfuhr, nichts davon war vergebens. Selbst die bittersten Erfahrungen betrachte ich als Ingredienzien, die nicht fehlen dürften, um den unvergleichlichen Geschmack dieses Glücks und dieser Dankbarkeit hervorzuzaubern. Tausende Weisheiten umlagern mich, bedrängen mich, dass ich sie doch endlich ins Wort setzen möge. Wie verspielte Kätzchen laufen sie mir überallhin nach, weichen keinen Moment von mir.

Montag, 24. Juni 2013

Nun lach' doch mal!

Nun lach' doch mal! Mit diesen Worten einer Mutter, gerichtet an ihr Kind, lässt sich einiges erklären, was für ein Verständnis unserer Beziehungen wertvoll sein kann. Die Mutter bemängelt an ihrem Kind, dass es nicht lacht. Anstatt sich des Lebens zu erfreuen, schaut es mit in sich gekehrtem Blick umher. Man merkt ihm an, dass es lieber woanders wäre. Was tut die Mutter? Sie will das Kind lachen sehen. Auf dieses Lachen kommt es ihr an, darauf, ihren Schützling als Sonnenschein preisen zu dürfen. Es interessiert sie nicht, wie es ihrem Kind geht. Keine Nachfrage, kein Trost, keine Umarmung. Nein, sie verlangt eine rein mechanische Äußerung der kindlichen Gesichtsmuskeln, damit sie sich selbst besser fühlen darf. Sie lässt sich auf ihr Kind gar nicht ein, sondern behandelt es wie ein Objekt, das zu funktionieren hat.

Kein Mensch ist an sich traurig. Es sind die Beziehungen zu anderen, die ihn traurig machen, ihre unbefriedigende Qualität oder ihr gänzlicher Mangel. Die Mutter steht in Beziehung zu ihrem Kind, aber sie versteht nicht, dass sie selbst im höchsten Grade dafür verantwortlich ist, dass es traurig ist. 

Sonntag, 23. Juni 2013

Misstrauen als Weltlosigkeit

Viele Leiden bleiben einem unbekannt, wenn man sich in sich selbst verpanzert. Doch der Schmerz, sich überhaupt verpanzern zu müssen, hängt doch traurig über all jener Sicherheit, die man auf diese Weise gewinnt. Der Diktator, der im Bunker sitzt und der trostlosen Melodie der Bomben lauscht, mag sicher sein. Aber er lebt in einer ihm feindlichen Welt. Er darf nicht die Wärme der Sonne auf seiner Haut fühlen, sondern muss sich mit dem künstlichen Schein einer Glühbirne abfinden. Wenn er noch oben blickt, darf er keinen weiten blauen Himmel über sich ausgespannt fühlen, sondern hat nur das schäbige Weiß der Bunkerdecke vor Augen. Kein Vogelzwitschern dringt an sein Ohr, sondern allenfalls das leise dumpfe Geräusch, wenn die Motte einmal mehr von der Glühbirne abprallt, in dessen sterile Flamme sie sich so gerne stürzen würde. Der misstrauische Mensch ist sicher. So sicher, wie der Boden sicher ist, auf dem er steht. Aber weiter reicht seine Welt nicht. Sein ganzer Lebensraum ist zusammengezogen auf die enge Zelle seines Bewusstseins.

Solange man misstraut, ist man kein Bewohner dieser Welt. Zwar atmet man ihre Luft, doch nur wie ein Dieb, der fürchtet, erwischt zu werden. Es stimmt nicht, dass man geheilt werden könnte, fände man nur den einen Menschen, dem man vertrauen könnte. Der Diktator bleibt auch dann ein misstrauischer Mensch, wenn er seine Geliebte mit in den Bunker holt. Geteilte Sicherheit bedeutet noch lange kein Vertrauen, wenn das Misstrauen allen anderen gegenüber fortbesteht. Wir machen uns verletzlich, wenn wir anderen vertrauen. Aber wir machen uns weitaus verletztlicher, wenn wir ihnen nicht vertrauen. Denn dann sind sie nichts anderes als Fremde für uns, deren dunkle Pläne wir nicht durchschauen, keine Menschen wie wir. Menschen wie wir können wir verstehen; wenn wir ihnen jedoch misstrauen, vergessen wir dies schnell. Dann entstellen wir sie zu Unmenschen und Ungeheuern. Mit Menschen, mit denen wir nicht mitfühlen können, verbindet uns nichts; deshalb werden sie leicht zum Spielball unserer verängstigten Phantasie. 

Sorgen

Sorgen beziehen sich immer auf etwas Zukünftiges, also auf etwas, das noch nicht eingetroffen ist. Deshalb ist der sich sorgende Mensch ein passiver Mensch. Er kann nichts tun, denn könnte er etwas tun, müsste er sich nicht sorgen. Wir sollten uns nur um das bekümmern, was wir durch unser Tun und Wirken verändern können. Alles andere können wir nur anbeten oder verteufeln, das heißt als unbesiegbare Autorität anerkennen.

Die Sorgen stehen selten in einem angemessenen Verhältnis zu dem, was sich  tatsächlich ereignet. Viele Sorgen sind überhaupt grotesk voluminös. Wie kommt es, dass wir es denn Sorgen gestatten, unsere Gegenwart mit Gedanken an eine Zukunft zu verdüstern, die sich ohnehin ganz anders darstellen wird? Warum opfern wir den Augenblick, in dem wir allein glücklich sein können, um an ein Morgen zu denken, das uns das Glück allenfalls zu versprechen vermag?

Nur im Jetzt können wir leben und wirken. Stellen wir uns einen Menschen vor, der glücklich gelebt und kaum jemals an die Zukunft gedacht hätte. Wie schwer könnte einen solchen Menschen ein Unglücksfall treffen? Was wäre vorzuziehen? Ein Leben in Sorge führen und es ohne größere Rückschläge vollenden? Oder es unter großen Schmerzen ganz verbrauchen im Kristallisationspunkt des ewigen Jetzt? Haben wir überhaupt diese Wahl?

Das Besorgende ist nicht nur noch nicht eingetreten, es ist zudem auch ungewiss. Wer sich sorgt, weiß nicht, was passieren wird, zieht einen ungünstigen Ausgang jedoch in Betracht. Anders verhält es sich, wenn wir wissen, dass uns etwas Schlimmes ereilen wird. Wir alle wissen, dass wir sterben werden. Darum brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir sterben könnten. Gleichzeitig glauben wir, dass unser letzter Tag noch lange nicht gekommen ist. Unser Tod ist gewiss, wir nehmen ihn für jetzt aber nicht als wahrscheinlich an. Jeden Tag könnten wir sterben, aber wir glauben nicht an den Tod - nicht an unseren Tod.

Oft empfinden wir Schuldgefühle gegenüber unseren Sorgen, weil wir ihnen zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht haben. Es beruhigt auf eigentümliche Weise, sich Sorgen zu machen. Das Ungewisse verschwindet, weil man den schlimmstmöglichen Ausgang bereits für feststehend annimmt. Da man vom Schlimmsten ausgeht, verliert die Ungewissheit ihre nervenzerfetzende Wirkung über uns. Das heißt nicht, dass irgendein Problem gelöst worden wäre, ganz im Gegenteil: Durch unsere Resignation wird es veredelt. Wir machen es zu einer Autorität über uns.

Freitag, 21. Juni 2013

Pfötchen

Ich danke dir, weil du nie an das Untier in mir glaubt hast, von dessen Existenz ich solange so inbrünstig überzeugt war. Du schrecktest nicht zurück, als ich dir von ihm mit gesenktem Blick erzählte, so als ob ich dir etwas zu beichten hätte. Nein. Du gabst mir zu verstehen, dass du nicht an meine Niedertracht glaubst. Ich dachte, dass du mich für meine Worte nur verachten könntest, doch du nahmst sie gar nicht ernst. Als ich all meinen Mut zusammennahm, sie zum ersten Male auszusprechen, lachtest du nur. Ob ich dir das übel nahm? Zunächst ja. Doch später begriff ich, dass du tiefer geblickt hattest. Danke. Du hast mir geholfen, mich in einen Atheisten des Bösen zu verwandeln. Ich glaube nicht mehr, ich sei ein böser Mensch. Wenn sich mein Untier heute noch ans Licht wagt, dann gibt es Pfötchen.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Achtsamkeit

Mich interessiert nicht, was du denkst. Was du gelesen hast und wie du es in klingende Worte zu gießen verstehst. Nein, mich interessiert einzig und allein, was du tust. Oder besser: Du solltest dich dafür interessieren. Was tust du in genau diesem Augenblick? Du fragst dich jetzt vielleicht, wozu diese Frage gut sei. Warum fragst du dich das? Weil du darauf programmiert bist, nachzufragen, wenn du etwas nicht verstehst. Du bist es gewohnt, in einer bedeutungsvollen Welt zu leben. Aber ich bin nicht daran interessiert, mit dir ein anregendes Gespräch zu führen. Solange wir versuchen, uns einander zu erklären, sind wir nicht achtsam. Wer die Wahrheit sucht, kann nicht achtsam sein. Ich werde dich nicht auf eine neue Suche schicken. Du sollst dich in Achtsamkeit üben, nicht mit Worten um dich schmeißen. Was tust du? Du sitzt vor deinem Laptop und liest diese Zeilen. Ja, das tust du. Damit hast du meine Frage beantwortet. Wichtig ist mir, dass es auch die deine ist. Du kannst nicht für mich achtsam sein.

Du sitzt also vor deinem Laptop und versuchst, meinen Sätzen irgendeinen Sinn zu entlocken. Sei ehrlich zu dir. Noch einmal: Es geht nicht darum, dass du meine Fragen beantwortest. Sie sind nur Fingerzeige, auf die du eingehen kannst. Wie fühlst du dich? Bitte sag' jetzt nicht: Gut, danke. Das ist keine ehrliche Antwort, sondern die Versicherung, dass man sich um dich keine Sorgen machen müsse. Du willst mich mit dieser Antwort beruhigen. Doch wenn du ehrlich in dich hineinfühlst, was entdeckst du dann? Ein schlichtes rotwangiges Wohlbefinden? Oder nicht doch etwas ganz anderes? Bitte suche jetzt nicht nach einer Antwort, von der du meinst, dass sie mich zufriedenstellen könnte. Suche auch für dich selbst keine Antwort, die du, zum Beispiel als witzige Sentenz, überallhin mitnehmen könntest. Du kannst nichts mitnehmen. Nichts, was du jetzt fühlst, wird diesen Augenblick überlegen, es sei denn als Karikatur. Schon wenn du mir sagtest, was du fühlst, wärst du damit schon über dein Gefühl weit hinaus.

Mittwoch, 19. Juni 2013

Der erste Flügelschlag

Die letzten Tränen,
Verspielt verteilt
Auf deiner Haut,
Der alten, jungen, schönen,
Sind geronnen zu Kristallen,
Darin ein Träumen,
Gebrochen und verfallen,
Sich der eignen Schönheit schämt.

 Sie hätten singen sollen,
Deine Seele.
Doch sie lernte es zu spät.
 Schon Nacht war es,
Als sie beschloss,
Den ersten Flügelschlag zu tun.

 
 



                                            





Dienstag, 18. Juni 2013

Autoritäten

Schon von Kindheit an sind wir es gewohnt, Autoritäten über uns zu haben. Zuerst sind es die Eltern, die uns manipulieren, das heißt erziehen. Dann kommen diverse Lehrer und Erzieher hinzu. Auch später, wenn aus uns Auszubildende, Studenten oder Arbeitnehmer geworden sind, bleibt es dabei: Immer haben wir jemanden über uns, von dessen gütigem Urteil unser Fortkommen abhängt. Selbst die Freiesten müssen sich Gesetzen beugen, die sie nicht beschlossen, und eine Politik erdulden, die sie mit ihrer Stimme nicht unterstützt haben. Wer seid ihr eigentlich, dass ihr über uns regieren dürftet? Wie könnt ihr euch anmaßen zu meinen, ihr könntet uns irgendetwas beibringen? So fragen sie. 

Die Dozenten sagen nicht: Ich will dir helfen, damit du deinen Weg findest. Sie sagen: Wir möchten, dass du in unsere Sprechstunde kommst, damit wir noch einmal über die Arbeit reden können. Damit du die formalen Vorgaben kennst, einhältst und weißt, wie viele Bücher du mindestens in deinem Literaturverzeichnis aufführen musst. Unter diesen Vorzeichen mag es nicht verwundern, dass viele Menschen es als ganz natürlich ansehen, ja sogar darauf bestehen, beherrscht und ausgebeutet zu werden. Sie kennen es eben nicht anders. Immer war ja jemand da, der ihnen gesagt hat, was sie tun sollen. Dies verrät sich ganz naiv in Formulierungen wie dieser: An irgendetwas muss der Mensch ja glauben. Dass es irgendeine Autorität geben muss, haben diese Menschen derart verinnerlicht, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen können, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie wissen nicht, was es heißt, nur den Himmel über sich zu fühlen.

Sonntag, 16. Juni 2013

Die Wüste des Schweigens

Wenn wir besser über die Menschen dächten, hätten wir keinen Grund mehr, Angst vor ihnen zu haben. Die Gefahr, dass uns eine gefährliche Wahrheit über die Lippen rutschen könnte, würde dann nicht mehr bestehen. Und wenn sie doch einmal ans Licht käme, so wäre diese Wahrheit alles andere als gefährlich. Sie wäre schön. An jemanden mit einem warmen Lächeln denken zu können, ist ungemein befreiend. Warum verschwenden wir unsere Zeit, um uns einander unsere Fehler vorzurechnen? Warum denken wir so viele destruktive Gedanken, von denen wir doch wissen, dass wir sie niemals werden äußern können, ohne uns Feinde zu machen? Also wächst die Wüste unseres Schweigens ... Ein großer Teil unseres Unglücks erklärt sich aus der Undiszipliniertheit, mit der wir zu denken pflegen. Wir können denken, was wir wollen, denken aber meist nur, was wir eben denken. Jedem Zweifel wird sofort das Türchen aufgemacht. Man gibt ihm gerne die passenden Worte, in die er sich wie in einen gut gefütterten Pelzmantel kleidet. Dabei könnten wir ebenso gut jene Gedanken kultivieren, die uns und anderen guttun. Die uns ein wenig mehr in einen jener Menschen verwandeln, an die man mit einem Lächeln denken mag.

Samstag, 15. Juni 2013

Sieben Minuten

Seit Hannie dem Debattierklub beigetreten war, hatte sich ihre Beziehung zu Felice sehr verändert. Schon bei ihrem ersten Besuch entdeckte Hannie ihre Leidenschaft für's Debattieren. Sie galt zwar als eher schüchtern und verschlossen, doch wenn sie fühlte, wie die gespannten Blicke auf ihr lagen, verwandelte sie sich. Die Erfahrung, dass sich jeder aufmerksam ihrer Worte anhören würde, war ihr völlig neu. Es war ihre Redezeit, sie konnte damit machen, was sie wollte. Wenn sich ein Mitglied der Opposition hinstellte und den Arm hob, um eine Zwischenfrage zu stellen, konnte sie ihn einfach warten lassen. Sie genoss es, die Redner der Opposition, die ihr so gerne widersprochen hätten, nicht zu Wort kommen zu lassen. Das gab zwar Abzüge in ihrer Wertung, doch das kümmerte sie wenig. Sie empfand ihr Verhalten alles andere als unfair. Sie hatte genug gelitten, jetzt sei sie eben an der Reihe. Sie bestand darauf, dass man ihr und nur ihr zuhörte. Normalerweise interessierte sich fast niemand für das, was in ihrem Kopf vorging. Mit Ausnahme von Felice. Diese sieben Minuten aber würden ihr und nur ihr gehören, von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Nach der ersten Debatte unterhielten sich Hannie und Felice über Sinn und Unsinn des Debattierens. Sie waren den anderen Debattanten in deren Stammlokal gefolgt, um die losen Kontakte, die aus ihrem Besuch entstanden waren, gleich ein wenig festzuzurren. Den Tisch teilten sie mit mit Damian, einem ambitionierten BWL-Studenten, der zuvor mit großer Inbrunst für den moralischen Wert der Prostitution argumentiert hatte. Felice langweilte sich schnell, während Hannie Damian nach jeder seiner Klausurnoten des vergangenen Semesters fragte, um nur irgendwie in ein Gespräch hineinzukommen. Der genoss es sichtlich, von sich das Bild eines werdenden Leistungsträgers aufzubauen. Kurzum, Hannie und er verstanden sich sehr gut, allerdings ohne einander etwas zu sagen zu haben. Endlich, nachdem sie ihre dritte Zigarette verbraucht hatte, mischte sich Felice ein. "Wenn ich diskutiere, dann möchte ich auch meine eigene Meinung vertreten und nicht einer Partei zugelost werden. Zwar halte ich es auch für wichtig, die andere Seite ernstzunehmen, ich würde aber niemals für eine Sache streiten, an die ich nicht glaube." Dieses Argument kannte Damian. Gelassen und selbstbewusst erwiderte er: "Ein Debattierklub íst ein Ort, an dem du deine Selbstdarstellung verbessen, an deiner Rhetorik feilen und viele interessante Leute kennenlernen kannst. Wenn du an deinen Meinungen klebst, bist du hier falsch. Dann solltest du lieber in die Politik gehen." Diese Worte verletzten Felice. So als suchte sie Hilfe, blickte sie in Hannies Richtung. Ihre Freundin aber schaute Damian mit leicht geöffnetem Mund von der Seite an. Scheinbar wollte sie etwas sagen, doch als ihr Felices Hilflosigkeit bewusst wurde, hielt sie ihre Worte zurück. Das junge Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Die nächsten Wochen ging Hannie allein zum Debattierklub. Felice hatte zwar ein vernichtendes Urteil über Damian und einige andere Klubmitglieder gesprochen, sie unter anderem als oberflächlich und eingebildet bezeichnet, doch Hannie berührten diese Worte überhaupt nicht. Im Gegenteil glaubte sie, dass es Felice schlicht an dem nötigen Selbstbewusstsein mangele, um beim Debattieren glänzen zu können, und dass sie deswegen so schlecht über den Klub dachte. Sie nahm sich vor, Felice dies zu sagen. Doch ihren Vorsatz vergaß sie schnell, spätestens dann, als sie ihren zweiten Auftritt hatte. Damian war auch wieder da. Er lachte sie an. Nicht nur er. Vielleicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie attraktiv sie eigentlich war. Es war ihr egal, für welche Seite sie streiten sollte. Man würde ihr zuhören. Jedes ihrer Worte mit Wohlgefallen prüfen und, wenn es sein musste, hart kritisieren. Aber selbst die Kritik nahm sie gern an, erblickte sie in ihr doch so etwas wie Neckerei. Was sich neckt, das liebt sich. Alle widersprachen, sprich: neckten sie, ergo: Alle liebten sie. Mit einer unglaublich gehobenen Stimmung verabschiedete sie sich gegen zwei Uhr von Damian, Ilja und Stefan. Alle drei hatten ihr ihre Nummern gegeben. Unschlüssig, wen sie anrufen sollte, torkelte sie durch die bis dahin glücklichste Nacht ihres Lebens. Glücklichere würden folgen, da war sie sich sicher. Vor allem weniger einsame.

Sie ärgerte sich, ihr Glück nicht mit Felice teilen zu können. Diese hatte es vorgezogen, einen ruhigen Abend zu Hause zu verleben. Hannie ging ihren Gefühlen nach, ordnete sie. Zunächst wollte sie es sich nicht eingestehen, doch es stimmte: Sie empfand Felice als Last, als Bremse ihres Glücks. Solange sie sich selbst zurückgenommen und sich auf einer schüchtern-liebenswerten Stufe mit Felice gesehen hatte, war ihr dieses Gefühl noch nicht untergekommen. Also immerhin schon über sieben Jahre nicht. Sie begann, sich Fragen wie die folgenden zu stellen. War Felice im Grunde nicht ein seltsames Mädchen? Kann man mit einem Menschen mit latent depressiver Charakterstruktur überhaupt befreundet sein, ohne sich selbst runterzuziehen? Wie soll eine Freundschaft lebendig bleiben, wenn man nur das Leid des anderen teilen kann, mit dessen Glück und Euphorie aber nichts anzufangen weiß?

Freitag, 14. Juni 2013

Sentimentalität

Über die Liebe zu schreiben, setzt immer schon den Mangel an Liebe voraus. Denn unweigerlich muss man sich fragen, wie das, was man schreibt, wirkt. Solange ich mir diese Frage stellen, kann ich den Menschen, dem ich schreibe, nicht lieben. Die ruhig abwägende, nach idealem Ausdruck verlangende Ambition zerstört jedes Gefühl. Sentimentalität bedeutet, dass man nach Worten sucht, um ein Gefühl auszudrücken. Dieses Suchen ist möglich, weil sich das Gefühl nicht spontan und ungezwungen in Worte gießen darf. Immer muss es zunächst den Kontrollposten der sprachlichen Selbstzensur passieren, was oft mit vielen Schikanen verbunden ist. Dadurch verliert es seine Unmittelbarkeit und Wahrheit. Weil wir nicht lieben können, legen wir so viel Wert auf die Sprache. Mit ihrer Hilfe vermögen wir den Eindruck zu erwecken, wir würden aus ganzem Herzen lieben, obwohl wir innerlich schon lange tot sind und jedes Wort peinlich genau abgewogen haben. 

Sobald man merkt, dass man nach den richtigen Worten suchen muss, darf man sich sicher sein, dass man sie nicht finden wird. Man fühlt dann nichts. Wie schön die Worte auch sein mögen, die uns dann über die Lippen gehen, sie werden falsch und leer sein. Sie sind eben nur schön. Dass wir tatsächlich etwas fühlen, ist selten. Vielleicht sollten wir uns das einfach eingestehen und andere nicht verurteilen, weil sie "gefühllos" sind. Wir sagen so vieles, das unserem Gefühl widerspricht, nur um andere nicht zu verletzen und uns selbst zu beruhigen. Wir sind unaufrichtig, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass die Gefühllosigkeit, die wir an anderen tadeln, unsere eigene ist. Ja, es ist wirklich so schlimm um uns bestellt. Aber sollten wir uns deshalb gleich aufhängen?

Donnerstag, 13. Juni 2013

Nie aufgehört

Warum schreibst du, dass du komplett versagt hättest? Wir versagen, weil wir unseren Ansprüchen nicht gerecht geworden sind. Aber müssen wir den Ansprüchen denn unbedingt gerecht werden, um uns gut fühlen zu dürfen? Unsere Biographien sind verworren, unzusammenhängend und rätselhaft. Viele Erinnerungsfetzen warten noch darauf, entdeckt und geborgen zu werden; anderes wird sich unserem Geist wohl auf ewig entziehen. Na und? Wir leben jetzt, genau in diesem Augenblick! Wir atmen. Unsere Herzen schlagen. Ja, tatsächlich! Kannst du es spüren? Du lebst, weil es jetzt schlägt, nicht vor einigen Jahren oder Monaten. Es hat nie damit aufgehört. Auch in den schwärzesten Stunden hatte dein Herz immer fleißig seine Pflicht getan, denn immer wusste es: Da kommt noch was! Deine Verzweiflung behauptete zwar, dies Herz sei gebrochen; doch das waren nur Worte. Es lebt, es tanzt, es schlägt - heute mehr denn je!

Wenn dich deine Tochter anlächelt, blickt sie dann in das Gesicht einer Versagerin? Natürlich nicht! Sie ist glücklich, dass sie dich hat. Sie lässt dich nicht über die Klinge irgendeines kalkulierendes Anspruchsdenken springen. Ihr Blick ist noch frisch, ungebrochen, klar. Sieht sie denn weniger als jene, von denen man sagt, dass sich wissen, wie der Hase läuft? Weniger als jene, die resigniert in ihren Winkeln hocken und die Welt mit ihren immergleichen Sprüchen ausdeuten? Hast du nur ein kleines, unwissendes Wesen vor dir, wenn du sie anschaust? Oder glänzt in ihren Augen nicht etwas ganz anderes, eine tiefere Weisheit? Du nennst sie deine kleine Lehrmeistern. Sie hat dir mit einem Lächeln tief ins Herz gesehen, tiefer noch als selbst das verletzendste Wort jemals dringen könnte. In jenes Herz, das nie zu schlagen aufgehört hat ... Spürst du es?

Dienstag, 11. Juni 2013

Reinkommen!

Woher kommt dieser merkwürdige Drang, jede Frage erst auf einer theoretischen Ebene zu beantworten, bevor man sich ins kalte Nass der Wirklichkeit zu stürzen wagt? Das Leben ist anders. Es ist dreckig, widersprüchlich, traurig und schön. Wir sollten unsere Ahnungslosigkeit fröhlich bekennen. Wenn du jemanden triffst, der sich an einer Aufgabe versucht, an der er scheitern muss, lass' ihn scheitern! Ermuntere ihn noch dazu! Nähre ihn mit falschen Hoffnungen! Es ist wichtig, zu scheitern! Die Grenzen, die wir meinten, auf ewig sichern zu müssen, haben ihren Schrecken längst verloren. Verrückt alle Grenzsteine! Reißen wir Horizonte ein! Unter welchen Himmeln werden wir noch wandeln? Welche Lieder werden wir einst singen? Von welchen Hoffnungen werden unsere Melodien erzählen? Hört ihr sie schon? Leise? In euren Herzen? Wer wüsste heute schon zu sagen, was das Wort Liebe einmal in unserem Munde bedeuten wird? Hass? Glaube? Wir kennen uns ja gar nicht! Wollen wir uns denn kennenlernen? Wichtig ist nur, dass wir anfangen, irgendwo und irgendwie. Es muss kein schöner Anfang sein. Dass wir reinkommen, darauf kommt es an. Ein Zeichen setzen! Das Revier markieren! Saubermachen können wir auch noch hinterher!

Montag, 10. Juni 2013

Schöne Seele

Eine schöne Seele nimmt sich, was sie braucht. Ihr Nehmen ist seliger als das Geben aller Anständigen zusammen. Sie zieht keine Lust daraus, die Grenze irgendeines Anstandes einzurennen. Es ist ihr gleichgültig, was man über sie denkt. Sie ist radikal aufrichtig gegenüber sich selbst; das genügt ihr. Nichts ist ihr peinlich, weil sie die Wahrheit liebt. Sie adelt, indem sie verbraucht, was und wen sie will.

Samstag, 8. Juni 2013

Da sein

Niemand hat das Recht, einen anderen bis in die letzten Winkel seiner Seele hinein mit unbedingten Forderungen zu tyrannisieren. Mitgefühl, Selbstaufopferung, absolute Hingabe. Mit nur scheinbar harten Worten muss man den unbedingt Fordernden zu verstehen geben, dass kein Mensch wirklich für einen anderen da sein kann.

Sonntag, 2. Juni 2013

Auf Distanz

Wenn wir denken, erzeugen wir eine Distanz zwischen uns und dem, was wir denken. Auf diese Weise gewinnen wir einen Sicherheitsabstand, der uns schützt. Wir abstrahieren von der Welt und setzen uns mit Karikaturen auseinander. Der ganze, lebendige Mensch ist verschwunden, zermalen im Mühlrad des Denkens. Was bleibt, sind Worte, tote, leere Worte.

Solange wir nur denken, können wir uns nicht verändern. Denn Denken bedeutet, auf Distanz zu sein. Solange wir uns selbst distanziert gegenüberstehen, müssen wir uns fremd bleiben. Wir sind nicht wir selbst, sondern allenfalls unsere eigenen interessierten Beobachter. Solange wir uns fragen, ob wir uns schon verändert hätten, haben wir uns noch nicht verändert, denn wir sind nach wie vor von uns selbst getrennt. Wenn wir unserem Ideal gerecht werden wollen, müssen wir es vergessen. Denn solange es uns gedanklich beschäftigt, sind wir von ihm getrennt, und solange wir von ihm getrennt sind, laufen wir ihm - und damit auch uns - hinterher.