Mittwoch, 13. November 2013

Selbsterkenntnis

Ich denke nicht, dass sich Selbsterkenntnis im Nachdenken erschöpfen kann. Wenn wir über uns nachdenken, dann objektivieren wir uns, wir machen uns zu den Objekten unserer Reflexionen. Doch ist das überhaupt möglich? Wenn wir versuchen, uns zu erkennen, sind wir Erkennende und Erkanntes in einem. Einerseits sind wir lebendig, unergründlich und von tausenden Widersprüchen durchzuckt, auf der anderen Seite trachten wir danach, bis auf den unbewegten Grund unserer Seelen zu schauen. Kann das funktionieren? Über sich selbst nachzudenken, heißt auch, still zu halten, es ist so, als wären wir beim Fotografen, der uns sagt, dass wir lächeln sollten. Es ist nicht echt. Wir erleben uns nie so, wie wir sind, sondern so, wie wir uns erleben, sofern wir uns reflexiv mit uns befassen. Mit anderen Worten: Wie wir in natura sind, werden wir niemals erfahren, zumindest nicht, solange wir nur unsere Gedanken auf die Reise schicken. Das Nachdenken hat es immer nur mit etwas Künstlichem und Verstelltem zu tun. Als Denkende vermögen wir immer nur einen matten Schimmer des Lebens zu erfassen, den gebrochenen Rest und Schatten einer Erfahrung, die aus der Ferne her nur noch als Erinnertes zu uns dringt. Darum gehört das Gefühl, nicht zu leben, zu den eigentümlichen Erfahrungen des Menschen, der es wagt, über sich nachzudenken. Selbsterkenntnis kann aber nicht bedeuten, aus sich einen Toten zu machen, im Gegenteil. Wir wissen oft gar nicht, auf wie vielfältige Weise wir lebendig sein könnten. 

Donnerstag, 7. November 2013

Verantwortung

Jemand anderem die Schuld zu geben, heißt immer auch, dass man Verantwortung für sein eigenes Leben abgibt. Gern wird auf die Wirtschaftshaie und die korrupten Politiker geschimpft, um endlich mal Luft abzulassen. An jeder Straßenecke kann man Menschen treffen, die nur darauf warten, einem zu erklären, warum "die da oben" so niederträchtige Menschen seien. Und natürlich wissen sie selbst allesamt besser, was zu tun sei. Auch die systemimmanenten Zwänge der kapitalistischen Wirtschaftsform werden mit Vorliebe herbeizitiert, um zu beweisen, warum echtes menschliches Glück in dieser Gesellschaft nicht möglich sei. Andere verlegen das Übel aller Probleme kurzerhand in die menschliche Natur selbst. Der Mensch sei nun einmal gierig und egoistisch und überhaupt ein Missgriff der Schöpfung. So leicht kann man es sich machen. Die einen denken, dass ein anders Leben möglich wäre, glauben aber selbst nicht daran, die anderen meinen, so wie es ist, war es schon immer und wird es immer sein. In der Konsequenz sagen sie dasselbe.

Ich finde es gut, wenn sich Menschen für etwas engagieren. Damit geben sie ihren Worten Wahrheit. Sie sind bereit, Zeit und Schweiß für etwas zu investieren, woran sie glauben. Das ist etwas Großes und Schönes. Anders verhält es sich mit der großen Mehrheit, die sich darauf beschränkt, beleidigt zu sein, ohne etwas zu tun. Diese Menschen haben nicht das Recht, gehört zu werden. Menschen, die irgendeiner Vergangenheit nachtrauern oder selbst nicht daran glauben, dass sich etwas verändern könnte, sollte man keinerlei Aufmerksamkeit schenken. Im Grunde führen sie eine gespenstische Existenz. Sie leben gar nicht. Da sie die Verantwortung für ihr eigenes Leben nicht im vollen Umfang übernehmen, sind sie nur in reduzierter Weise existent. Ja, sie würden gerne ein gutes Leben führen, aber aufgrund irgendwelcher Gründe sei es ihnen nun einmal nicht möglich. Immer ist irgendetwas, das sie daran hindert, sie selbst zu sein. Einige geben ihrer biographischen Vergangenheit die Schuld daran, dass sie niemals eine Chance haben werden, andere führen sich aufgrund ihres sozialen Milieus benachteiligt, wieder andere machen die böse intolerante Gesellschaft für ihre Unfähigkeit verantwortlich, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Sie trauen sich nur zu, ihre Eigenart zu leben, wenn diese gesellschaftlich goutiert wird. Mit anderen Worten: Sie wollen nur etwas, das sie allen recht machen können.

Jeder Mensch sollte sich fragen, ob er jemand sein möchte, der wie ein großes Kind von dem perfekten Paradies auf Erden träumt und laut aufschreit, wenn mal etwas nicht gut läuft. Ich nicht. Von den Muckern kann ich nichts lernen, wirklich gar nichts. Ich mag Menschen, die andere inspirieren, die etwas leisten und kreieren, Menschen, die sich ihre Leben von Rückschlägen nicht madig machen lassen, sondern es anpacken in dem Bewusstsein, dass es einmalig ist. Ihnen fühle ich mich verwandt. Ich habe keine Zeit, mir über Dinge Gedanken zu machen, die ich nicht aktiv gestalten und verändern kann!

Donnerstag, 31. Oktober 2013

Nett lächeln

... Zuspätkommen ... eine überflüssige alberne Bemerkung ... der Gedanke, wieder niemanden zum Reden zu haben ... verstocktes Unverständnis des Gegenübers ... der Anblick Liebender in der Straßenbahn ... Mein Alltag ist von zahlreichen Erfahrungen geprägt, die wie lauter kleine Nadeln in die Zellwand meiner Seele eindringen. Diese Löcher sind sehr klein und sie bluten kaum. Aber sie bluten. Jede dieser kleinen Erfahrungen sorgt dafür, dass es mir ein wenig schlechter geht, dass ich gereizter und unduldsamer werde, dass sich mein Vertrauen in die Menschen überhaupt abkühlt. Dann steigt allmählich Wut in mir auf. Die Fähigkeit, Mitgefühl zu entwickeln, stirbt mehr und mehr ab, was meine Isolation weiter verstärkt. Wenn ich in diesem Zustand irgendwo hingehe, stelle ich ein gewisses Risiko für meine Mitmenschen dar. Ich werde dann nicht diskutieren, empathische Gespräche oder sonst etwas beginnen, sondern ihnen zu verstehen geben, dass ich nichts von ihnen wissen will - und das strahle ich dann auch aus. Das funktioniert in der Regel ganz gut, eine solche negative Aura wirkt wie ein Fliegengitter gegen Menschen. Wenn ich in diesem Zustand angesprochen werde, so wie gestern im Seminar, und also jemand wagt, einen Fuß in meine verbitterte Einsamkeit zu setzen, kann ich für nichts garantieren. Nicht was ich gesagt habe, war hart, sondern wie ich es gesagt habe. Ich habe das gar nicht wahrgenommen, sondern erst durch die Reaktion der Kommilitonin bemerkt. Wenn ich die Situation empathisch betrachten würde, könnte ich diese Reaktion sicherlich nachvollziehen. Doch dazu bin ich nicht in der Lage. Ich fühlte mich in die Enge getrieben und meinte, mich gegen eine harmlose Frage wehren zu müssen: "Warum habt ihr die Proteste gegen die Wiederbewaffnung nicht erwähnt?" Was mich sehr befremdet hat, war die Dozentin, die mich nach dem Seminar zu sich gebeten hat. Wie einem bösen Jungen hat sie mir geraten, doch bitte zu versuchen, nett zu sein. Von den Nadelstichen hat sie natürlich keine Ahnung; sie will nur, dass ich mich besser präsentiere. Sie selbst ist eine große Selbstdarstellerin - und das fordert sie offenbar auch von ihren Studenten. Mit der Begründung, dass das im Arbeitsleben später wichtig sei. Also das alte dumme Argument, das schon so viele Menschen in die Selbstentfremdung getrieben hat: Nur wenn du so bist, kannst du erfolgreich sein - so wie ich. So eloquent, so perfekt im Darstellen einer Begeisterung, die nicht existiert. Du musst, du musst, du musst ... Ein einfaches "Wie geht es dir?" hätte mir hingegen gut getan. Aber das würde ja erfordert haben, dass sie sich auf mich wirklich eingelassen hätte, anstatt mir zu verstehen zu geben, dass ich ein defizitäres Wesen sei, dass sich gefälligst ändern solle. Stattdessen hat sie ihr suggestives Grinsegesicht aufgesetzt, das nur "Hab' ich Recht? Hab' ich Recht?" zu sagen schien. So redet man nicht unter Gleichen, so sprechen Lehrer mit ihren missratenen Schülern. Mit mir kann sie so nicht sprechen.

Ich fürchte, dass sich jemand, dem ich diese Situation vollständig berichten würde, auf die Seite der Kommilitonin bzw. der Dozentin stellen könnte. Wenn es mir schlecht geht und ich dann allein gelassen werde mit der Bemerkung, dass ja immer nur ich für all das verantwortlich sei, könnte ich weinen. Klar, die Leute, die immer ruhig bleiben, freundlich, lustig sind und in gelingenden sozialen Kontakten nur so schwimmen, werden sich natürlich untereinander solidarisieren, wenn es jemand wagt, pampig zu sein. Ich hasse am meisten, wenn sich Menschen hinter meinem Rücken im Bewusstsein ihrer wahrhaft menschlichen Gesinnung solidarisieren, denn dadurch wird die Möglichkeit, jemals irgendeinen Anschluss an sie zu finden, immer unwahrscheinlicher. Ich bin halt definiert in ihren Augen, ein schlechter Mensch. Es ist kein gutes Gefühl, wenn man weiß, dass da draußen Menschen herumlaufen, die einen so ansehen. Und das, obwohl ich ihnen nichts Böses will und an dieser Situation viel mehr leide, als sie es je könnten. Was bringt es da noch, nett zu lächeln?

Dienstag, 29. Oktober 2013

Breakaway

Gerne würde ich auf das Leben blicken wie ein alter Mann, der lächelnd sagt, dass er niemandem mehr etwas zu beweisen habe. Ein Mensch, der sich nicht mehr verrückt macht, wenn etwas nicht läuft, dem man anmerkt, dass in ihm ein tieferes Verständnis der Dinge lebendig ist. Ein Verständnis, das auf gründlicher Beobachtung und langer Erfahrung beruht. Leider bin ich noch lange nicht so weit, und es ist wahrscheinlich, dass ich das niemals hinkomme. Immer wieder fühle ich dieses Ziehen und Stechen in mir, eine große Unruhe, Unausgeglichenheit ... Keine Frage, irgendetwas wird da noch kommen, etwas, das mich einmal mehr verändern, meine Wurzeln ausreißen und in neue Böden verpflanzen wird. Jeder junge Mensch kennt wohl dieses unbestimmte Gefühl, dass das Wesentliche noch vor ihm liegt, auch wenn er nicht weiß, was genau das bedeuten wird ...

In den Seminaren habe ich es mit Menschen zu tun, denen es ähnlich geht. Sie machen mich krank. Das infantile Kichern über jede halbwegs abweichende Bemerkung des Dozenten, die unvermeidlichen Blicke auf ihre Smartphones, die wie kleine Teller vor ihnen liegen, der peinlich übertriebene Ehrgeiz, der sie hart werden lässt, ihre lächerlichen Versuche, gebildet zu sprechen, und das bei gleichzeitiger Unfähigkeit, Kompliziertes einfach zu erklären, die kalten Gleichgültigkeit, die sich sofort bemerkbar macht, nachdem das falsche Lächeln auf ihren Gesichtern verflogen ist, das sklavische Hinhören auf alles, was die Dozenten sagen ... Ich verachte dieses Pack. Zum Glück habe ich mir andere Schwerpunkte im Leben gesetzt, so dass ich die Universität betreten kann, wie ein Reisender einen Bahnhof betritt, nämlich ohne sich allzu viel dabei zu denken. Die Orte meiner Träume liegen andernorts. Es lohnt sich nicht, intellektuelle Leichen zum Tanzen bringen zu wollen. Macht euren Scheiß allein. Ich geh' spazieren, ihr Pussys!

Sonntag, 20. Oktober 2013

Selbstdisziplin

Das Denken findet in sich keine Ruhe. Jede Antwort gebiert eine neue Frage. Immer lässt sich noch ein weiteres Warum aus dem Hut zaubern. Einen natürlichen Endpunkt des Fragens, an dem der Zweifel endlich der Gewissheit wiche, gibt es nicht. Womit wir es zu tun haben, sind brüchige Konstruktionen, die die Philosophen und andere Welterklärer ersonnen haben, um ihre Lehrgebäude darauf zu errichten. Dabei bauten sie auf äußerst schwammigem Grund. Immer ist ihr Wille zu erahnen, einen festen Grund zu finden, notfalls zu erfinden, nur um endlich mit ihrem Werk beginnen zu können. Aber das ist unredlich. Das Denken eignet sich nur dazu, Sicherheiten zu zerstören; begründen kann es sie nicht. Ein denkender Mensch ist ein Zerstörer; Selbstverständlichkeiten lösen sich in seinem Geiste auf, liebgewordene Gewissheiten zerrieseln ihm zwischen den Händen. Je mehr er zu verstehen sucht und zu denken beginnt, desto weniger weiß er. Was er für gesichertes Wissen hielt, erstirbt im Weißlicht seines Zweifels. Er muss erkennen, dass seine tiefsten Überzeugungen ebenso notwendig sind wie die Augenzahl, die ein Spieler würfelt.

Weil das Denken alles zu nichts verwandelt, was einem lieb ist, bedarf man der Selbstdisziplin, um sich zu wehren. Es ist klar, dass der unendliche Zweifel auch die Selbstdisziplin ohne Probleme auflösen könnte. Durch das Nachdenken würde sie wiederum zu einem Problem des Denkens und damit zu einem ewigen Problem werden. Der selbstdisziplinierte Mensch ist nicht bereit, über alles und jedes zu diskutieren. Man könnte ihn unverständig nennen, weil er da, wo andere mit offenem Herzen hitzige Diskussionen führen, lieber schweigend seiner Wege geht. Seine Grundsätze sind zwar kontigent, und das mag ihm sogar bewusst sein. Dennoch fühlt er sich ihnen verpflichtet. Er hat Überzeugungen, über die er nicht diskutieren wird, und zwar unter gar keinen Umständen. Zu seiner Würde gehört es, das unendliche Spiel des Zweifels nicht mitzuspielen. Auch an seinen eigenen Motiven zweifelt er nicht; er verbittet sich vieles. Selbst jene, die sich über ihn lustig machen, bewundern doch im Geheimen die Festigkeit und Gravität seines Charakters, die ihnen abgeht, abgehen muss, weil sie einzig ihrem Denken die Treue halten. Und dem Denken, wir wissen es, vermag nur treu zu bleiben, wer sich selbst untreu wird ...

Freitag, 18. Oktober 2013

Nichts zu verlieren

Woher kommt diese unglaubliche Angst, seine Geschichte einem Fremden zu erzählen? Warum ist es so schwer, sich jemanden zu öffnen? Wie kann es sein, dass wir uns lieber in ein Schweigen hüllen, dass uns bis in die hintersten Winkel unserer Seele hinein verbittert, als einfach zu sagen, was wir denken und fühlen? Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist, dass er an seiner eigenen Sprachlosigkeit erstickt. Nicht-darüber-reden-Können ist ein anderes Wort für Einsamkeit. Die Seele, die nichts lieber täte, als aus ganzen Kräften zu schreien, muss ihre unerträgliche Spannung allein zügeln. Oft reden wir uns ein, wir dürften andere mit unseren Problemen nicht belasten und überfordern. Wir müssten das alles mit uns allein ausmachen. Aber belasten wir andere Menschen nicht viel mehr, wenn wir zunehmend verdüstern und verbiestern, weil wir nur noch stumm nach Innen schreien dürfen?

Eine mögliche Erklärung für dieses selbstzerstörerische Verhalten ist, dass wir nicht allein sein wollen. Wir möchten irgendwo dazugehören. Deshalb unterhalten wir Kontakte, denen es an jeder Tiefe und ehrlichem Interesse am anderen fehlt, nur um unsere große innere Leere zu betäuben. Die Angst, uns wieder mit dem Nichts des Alleinseins konfrontieren zu müssen, verwandelt uns in Konformisten. Wir versuchen, nicht negativ aufzufallen. Viele Menschen sind bereit, ihre Seele zu verkaufen, nur um nicht ganz allein in dieser Welt dazustehen. Sie haben noch nicht erfahren, dass das Alleinsein mit sich beglückender sein kann, als jene oberflächlichen Kontakte es je sein könnten. Die Einsamkeit zwingt den Menschen dazu, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ein Mensch, der sich nicht leiden kann, wird versucht sein, die Begegnung mit sich selbst möglichst lange, wenn nicht gar für alle Zeiten herauszuschieben. Viel lieber hört er auf die gleichgültig hingesagten Lobworte, die seiner Person gelten, als sich ernsthaft zu fragen, wer er eigentlich sei.

Jeder Kontakt, der sich nur darum erhält, weil man sein wahres Gesicht verbirgt, ist wertlos. Und wenn man nur einen Moment einmal die Ruhe findet, um über diese überwältigende Angst nachzudenken, dann stellt sie sich als unbegründet heraus. Denn was ist ein Kontakt mit Menschen wert, die nur dann bereit sind, sich mit einem abzugeben, wenn man all seine verleugneten Bedürftigkeiten hinunterschluckt? Was ist ihre Freundschaft wert, wenn sie sich augenblicklich aufzulösen beginnt, sobald man erstmals zu erkennen gibt, welch tiefe Traurigkeit in einem wohnt? Nichts. Und deswegen sollten wir mutiger sein, über uns zu sprechen. Denn nur dadurch können wir herausfinden, welchen Menschen wir wirklich vertrauen können und welche nur kaltherzige Narzissten sind, die in ihrer perfekten Welt auf jedes Zeichen der Schwäche allergisch reagieren. Wir verlieren rein gar nichts, wenn wir sie los sind.

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Einsamkeit

Dicker als eine Elefantenhaut umschließt dich deine Einsamkeit. Du könntest dich in dieser Haut wohl fühlen, würde sie deiner Seele nicht die Luft abschneiden. Gierig schlürfst du jeden Funken Menschlichkeit auf, der zu dir herniederträufelt. Von wenigen lieben Worten musst du dich ernähren. Dein Inneres ist abgedürrt und deine alten Wunden bluten nicht mehr, denn lange schon glaubst du nicht mehr daran, dass es anders sein könnte, als es eben ist. Du gehörst nirgends dazu, sondern gehst lose über diese Erde, deren Kind du bist. Du hast es nicht geschafft, deine Wurzeln tief in den Boden dieses Lebens hineinzusenken. Wie ein Anker, dessen Kette gerissen ist und der nun auf dem Grund des Meeres darauf wartet, dass ihn jemand bergen möge, betrachtest du die Lichter in der Ferne über dir, erhaschst immer wieder Ahnungen des Sonnenlichtes, das sich im Wellenspiel zärtlich andeutet. Auch du weißt noch, wie es ist, an Land und unter Menschen zu sein. Damals, als du noch kein komischer Kerl warst, als noch nicht jedes Wort, das du mühselig in deinem Geist für die Aussprache vorbereitest, sich so anfühlte, als würdest du es an einen übermächtigen Herrn richten, von dessen Gutdünken dein Leben abhängt. Heute werden alle Menschen deine Herren, denn jeder von ihnen könnte jemand sein, der dich aushält. Doch wartest du so gespannt auf diesen Menschen, dass er nicht kommen mag. Du fühlst selbst, dass du ihm nichts geben kannst, weil in dir nichts lebt. Zu mehr als ein paar ausgesuchten Höflichkeiten, zu einigen wohldosierten Worten ist deine ummauerte Traurigkeit nicht mehr fähig. Du hast es verlernt, dich zu verschenken, zu verschwenden und eine Welt in farbiges Licht zu tauchen. Ja, du weißt es, dass du nur eines kannst, nämlich Nehmen. Lange hast du versucht, das Letzte in dir zusammenzuziehen und deine vermoderte Innerlichkeit noch einmal zum Vibrieren zu überreden - vergeblich. Siehst du die Frau dort an der Haltestelle? Ist sie nicht ebenso einsam wie du? Wie sie so alleine auf den Bus wartet? Bis sie eine SMS bekommt. Sie liest sie. Ein wunderschönes Lächeln formt sich auf ihrem Gesicht. Verstehst du, was ich meine? Sie ist auf dem Weg von A nach B. Sie hat Menschen, die sich darauf freuen, sie zu sehen. Zu denen ist sie unterwegs. Du spürst ihre soziale Eingebundenheit, kannst sie beinahe sehen. Sie leuchtet. Vielen haben sie gern und es gibt viele, die sie gern hat. Sie lebt. Sie liebt. Sie kann es sich aussuchen, mit wem sie verkehren will, denn in vielen Herzen ist sie lebendig. Sie kann selektieren, also jene ausmisten, mit denen sie nichts zu tun haben möchte. Und zwar ohne sich schlecht fühlen zu müssen, weil sie Menschen kennt, deren heilsame Gegenwart es gar nicht erst zulässt, dass sich in ihr so etwas wie Schuldgefühle überhaupt herausbilden.

Du könntest ihr nichts geben. Aber auch die anderen Einsamen, deren Seelen ebenfalls vor Hunger schreien, magst du nicht sehen. Sie erinnern dich zu sehr an dein eigenes Leiden. Gerade ihnen willst du nicht zugestehen, dass sie deine Herren werden. Du willst dich sattfressen wie eine Made im Speck der menschlichen Emotionalität. Niemand wird dir diesen Gefallen tun, weil du diesen Menschen nichts Vergleichbares geben kannst, du Parasit. Und jene, die bereit sind, ihre Zeit für dich zu opfern, sind selbst froh, überhaupt jemanden zu haben, dem sie ihre traurige Geschichte erzählen können. Die Einsamen können keine Gemeinschaft bilden. Du ahnst, dass dieser Mensch immer bei sich bleiben wird, wie auch du immer bei dir bleiben wirst, ganz gleichgültig, was du tust. Ihr werdet euch nicht verstehen und im Grunde überhaupt nicht ausstehen können. Aber ihr werdet euch hüten, voneinander zu lassen, weil ihr euch fürchtet, wieder ganz allein eure Runden drehen zu müssen, die immer nur von A zu A führen. Du weißt, dass nur die Gemeinschaft dich retten und dir helfen kann, etwas von der Erdenschwere abzuschütteln, die dich so zu Boden zieht. Du hast nichts mehr zu verlieren. Wozu dich jetzt noch zurückhalten? Zu welchem Zweck willst du sie noch aufsetzen, deine alte Maske? Soll diese Maske deine Totenmaske sein? Es gibt nichts mehr zu verstecken. Denn es kommt einzig darauf an, sich in den Schmerz wie in seine letzte Hoffnung zu stürzen. Solange du noch versuchst, jemandem etwas zu beweisen, wirst du immer als Fremder unter jenen wandeln, die von Haus aus dazugehören.

Dienstag, 15. Oktober 2013

Die jüngste aller Weltreligionen

Die Liebe ist die Religion unserer Zeit. Die meisten Menschen halten ein Leben ohne Liebe für sinnlos. Immer wieder heißt es, dass es keine Tabus mehr gebe. In Bezug auf die Liebe trifft das nicht zu. Denn wer sich wagt, die Liebe zu kritisieren, wird sehr schnell ausgegrenzt und angegriffen. Dass es jemand wagt, das Wort gegen dies Heiligste, was Menschen kennen, zu erheben, wird nicht geduldet. Wer sich, zerfressen von Liebeskummer, von einer Brücke stürzt, gilt als jemand, der an einem zu tiefst menschlichen Problem zugrundegeht, wohingegen jemand, der mit kühlen Worten zum Ausdruck bringt, dass er dem allgemeinen Liebestaumeln nicht verfallen sei, schnell als Unmensch abgestempelt wird. Der an der Liebe leidende Mensch ist der Märtyrer der jüngsten aller Weltreligionen. Sein Schmerz ist der wahre Schmerz, der menschliche Schmerz. Wer hingegen gegenüber der Liebe eine ironische oder gar kritische Haltung einnimmt, gilt als Ketzer, als jemand, der die menschliche Sache verrät. Irgendetwas kann mit ihm nicht stimmen, er muss krank sein. "Wer so spricht, hat nie geliebt" - mit solchen und ähnlichen Aussagen sollen jene als lieb- bzw. gefühllos ausgegrenzt werden, die es wagen, nicht an die wunderwirkende Kraft der Liebe zu glauben. Sie gelten als herzlos, als kalte Spekulanten ihres Gefühlslebens. Gerne werden sie auch für krank erklärt, ihre Aussagen pathologisiert. Denn im Innersten sehne sich schließlich jeder Mensch nach der Liebe. Es ist klar, dass jemand, der auf diese Weise denkt, alle verurteilen muss, die es anders sehen. Menschen, die alleine leben, gelten als Unmenschen, als gescheiterte Existenzen, die man höchstens dann akzeptiert, wenn sie sich selbst als Suchende zu erkennen geben, als "Singles", also als solche, die auch an die Liebe glauben, sie aktuell aber nicht leben können. Alle anderen fallen aus der wahren Menschheit raus. Wahre Liebe, heißt es, überkommt den Menschen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie sei ein Gefühl, das spontan aus dem Herzen strömt, und das verdirbt, sobald es in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll. Der Verstand könne es nur zerstören. Die Religion der Liebe gebietet, dass sich der Mensch als gespaltenes Wesen betrachtet. In seinem Herzen erwächst das allein seligmachende Gefühl, während in seinem Kopf der rechnende Verstand regiert, der nur Unheil anrichten kann.

Sonntag, 13. Oktober 2013

Wandelbare Wahrheit

Alles ist dem Wandel unterworfen, sogar die Wahrheit. Wir wünschen uns jedoch klare Antworten auf unsere drängenden Fragen. Absolute Wahrheiten, die so verlässlig sind, dass man ruhigen Gewissens sein Haus auf ihnen bauen kann. Ein Haus, das kein skeptizierender Wolf dieser Welt umpusten kann. Wenn wir erfahren, etwas sei gewiss, glauben wir nur zu gern, dass es so sei. Denn Gewissheiten geben Sicherheit. Man weiß, woran man ist, womit man es zu tun hat. 

Dass wir uns wünschen, dass die Wahrheit auf eine letzte Formel zu bringen sei, verrät mehr über uns, als über irgendeine Wirklichkeit. Die Frage "Was ist Wahrheit?" suggeriert, dass es so etwas wie Wahrheit gibt. Was ist Wahrheit? Das, wonach gefragt wird, ist also bereits vorausgesetzt und die Frage deshalb nicht offen gestellt. Einerseits ist schon klar, dass es Wahrheit gibt, gleichzeitig bleibt aber noch im Dunkeln, was sie ist. Mit anderen Worten: Wir haben das Wort, wissen aber noch nicht, worauf es rekurriert. Das ist merkwürdig, denn wir verstehen ja schon ungefähr, was mit dem Ausdruck Wahrheit gemeint ist; ein gewisses Vorverständnis teilen wir. Sonst könnte wir diese Frage nicht stellen. Die Sprache legt nahe, dass es eine unwandelbare Wahrheit gibt, weil sich der Begriff Wahrheit scheinbar nicht wandelt. Wir gehen sogar davon aus, dass die Menschen früherer Zeiten auch schon nach unserer Wahrheit suchten. Schon die Griechen hätten ja auch nichts anderes getan, als nach jener Wahrheit zu suchen, als sie über die αλήθεια philosophierten. Dass sich die Alten bereits mit unseren Problemen herumschlugen, ist jedoch eine Annahme, der viele oft nicht ansehen, dass sie eine ist. Wir wollen, dass diese Dichter und Denker uns noch etwas zu sagen haben. Wir wollen uns als Kulturmenschen fühlen, die sich mit den immergrünen Fragen beschäftigen, "die die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt haben". Deshalb ebnen wir die Geschichte ein. Deshalb glauben wir, es gebe "ewige" Fragen.

Unter welchen Sternen

Unter welchen Sternen
Wirst Du wandeln?
Mit welchen Farben wirst
Du Deinen Schmerz
Ins Buch des Lebens malen?

Noch einmal sende Deinen Blick
dorthin zurück, woher Du kamst.
Noch einmal, ein letztes Mal,
Bevor Du ganz erhellt
Von jungen Lichtern
Neue Wege Dir erschließt.

Was wir hofften für die Zukunft
Verschwand, noch ehe es geboren.
Unsere Zeit, die niemals kam,
Liegt wie ein Schatten hinter uns
Verloren.

Welche Einsamkeiten wird dies' Herz
Noch fühlen, ehe es zum letzten Mal
Den roten Saft in die Zellen
Deiner Hoffnung schießt?

Unser Blut führt Nächte fort.
Wo wir erwachen, tauchen wir
Eine Welt in Dunkelheit
Und suchen auf der hellen Erde
Am Tage nach dem Licht.

Dienstag, 8. Oktober 2013

Gestürmte Festungen

Es gibt Seelen, die Häusern gleichen, denen der Wind die Dächer abgedeckt hat. Sie sind vollkommen schutzlos allem ausgeliefert, was auf sie einprasselt. Auch ihre Mauern sind brüchig, wenn sie nicht schon ganz zu Staub zerbröselt herumwirbeln. Diebe müssen die Türen dieser Häuser nicht aufbrechen, denn sie stehen jedem offen. Es gibt Menschen, die wie offene Wunden leben müssen. Fortwährend bemühen sie sich darum, freie Zonen zu schaffen, in denen sie sein können, ohne sich vor Übergriffen fürchten zu müssen. Ihre Unfähigkeit, sich innerlich zu distanzieren, kompensieren sie, indem sie sich äußere Sphären und Räume errichten. Der Tempel ihres Selbst wird von niemandem bewacht. Jeder kann in ihr Heiligstes eindringen und es entweihen. Immer, zu jeder Zeit.

Oft gehören solche Seelen sich nicht selbst, sondern jemand anderem. Wer einen anderen Menschen in seinem Innersten verwundet hat, beherrscht ihn. Denn wenn jemand dort verletzt ist, bleibt ihm keine Möglichkeit der Flucht mehr. In sich selbst kann er sich nicht mehr versenken, um einer feindlichen Welt zu trotzen, denn sein Inneres ist eine gestürmte Festung. Solch ein Mensch hat nichts mehr entgegenzusetzen, er ist gebrochen. Zwar wehrt er sich noch, jedoch ohne den rechten Glauben daran, dass ihn jemand hören könnte. Er ist das Wachs in den Händen seiner Beherrscher. Seine Feinde stehen nicht vor seinen Toren, sondern machen es sich diesseits seiner Mauern bequem. Und er schafft es nicht, sie wieder zu vertreiben. Seine Individualität verflüchtigt sich zur leeren Formel, die er sich unmotiviert vorsagt, so als ließe sich Lebendigkeit herbeireden. Er schämt sich, seinem Herrn nicht zu gehorchen, dem er ja schließlich gehört. Der Unterschied zwischen ihm und jenen, als dessen Schatten er nun leben muss, verwischt zusehends. Was Eigenes noch in ihm lebte, geht verloren, weil es sich nicht gegen den fremden Willen zu behaupten versteht, der sich in ihm eingenistet hat. Er fühlt sich als Teil eines anderen. Ein Teil, der sich schuldig macht dadurch, dass er noch als äußerlich individuiertes Wesen durch diese Welt geht, obwohl ihm sein Heiligstes längst genommen worden ist. Endlich regt sich in einem solchen Menschen der Wunsch, sich auszulöschen, um seine Seele zurückzuerobern. Indem er sich vernichtet, streift er seinen Leib, der längst zur leeren Hülle geworden ist, ab, um sich mit der allgewaltigen Macht zu verbinden.

Montag, 30. September 2013

Dankbarkeit

Der Mensch gewöhnt sich an alles. Er könnte glücklicher sein, wenn er sich an das Gute, das ihm widerfährt, nicht allzu schnell gewöhnen würde. Sobald er etwas als selbstverständlich ansieht, hört er auf, es wertzuschätzen. Wer in einer Welt lebt, in der er nur von Selbstverständlichkeiten umgeben ist, muss sich immer neue Genüsse erobern, um an seiner Gewöhnung nicht zu ersticken. Aus der Unfähigkeit, die Welt jeden Tag mit frischen jungen Augen zu sehen, erwächst jenem Menschen die Sehnsucht nach dem Anderen, dem Besonderen, dem noch nie Gesehenen. Aber auch diese fernen Länder seiner Phantasie wird er wieder verlassen, nachdem sein Blick sie alt und gewöhnlich gemacht hat. 

Ich denke, dass Dankbarkeit wichtig ist, um glücklich zu sein. Dankbarkeit ist nicht die Folge einer Wohltat, die uns jemand erwiesen hat. Wäre sie das, würde unsere Dankbarkeit ganz von anderen abhängen. Sie ist jedoch mehr, nämlich eine Fähigkeit, die man kultivieren kann. Wer die Dankbarkeit kultiviert, lebt in keiner gewöhnlichen, alten Welt. Es ist nicht selbstverständlich, dass es Menschen gibt, die sich darum sorgen, dass es uns gut geht. Oder Menschen, die bereit sind, sich unsere Geschichte anzuhören. Überhaupt nicht. Wie schnell vergessen wir das, wenn wir uns von Tag zu Tag hetzen lassen? Wie schnell geht es verloren, das Gefühl für den Wert einer guten menschlichen Beziehung? Beziehungen sind nicht einfach vorhanden; sie können nicht gespart und angehäuft werden wie das Geld auf der Bank. Eine Beziehung, die zur Gewohnheit geworden ist, gehört bereits der Vergangenheit an, sie ist tot.

Dankbarkeit ist die Fähigkeit, sich den frischen Blick für die Schönheiten des Lebens zu bewahren. Diese Schönheiten drängen sich nicht immer auf, sie sind nicht ohne weiteres zu sehen, schon gar nicht mit gleichgültigen Sinnen. Sie gehen unsichtbar an uns vorüber, solange wir sie nicht mit dankbaren Augen sehen. Dankbarkeit ist ein Geben, eine Aktivität, ein Sehen. Genau die Schönheit werden wir schauen, die wir bereit sind, sichtbar zu machen.

Freitag, 27. September 2013

Verbitterung

Es gibt Menschen, die andere durch ihre bloße Existenz unglücklich machen. Schon sehen zu müssen, wie sie ihr Leben anpacken und in vollen Zügen genießen, bringt jene um den Schlaf, die, geschützt von allen Blicken dieser Welt, in dunklen Winkeln ihr verbittertes kleines Leben führen. Sie vergleichen sich mit jenen, für die die Begriffe Liebe, Glück, Beruf und Anerkennung mehr sind als bloße Worte. Also mit jenen, mit denen sie sich niemals vergleichen dürften, wollen sie sich nicht die Finger an ihrem überhitzten Ressentiment verbrennen. Ein Glück, von dem man weiß, dass man auf immer von ihm abgeschnitten sein wird, muss entwertet werden. Es gibt niemanden, bei dem sich der Verbitterte beschweren kann. Wenn er eine missratene Physiologie hat, wem könnte er die Schuld geben? Etwa seinen Eltern? Aber seine Mutter konnte nicht ahnen, dass da eine Missgeburt in ihr heranreift. Der Schmerz des Verbitterten ist tief, aber hat er das Recht, den Glücklichen zu verbieten, ihre Lebensfreude vor seinen Augen leuchten zu lassen? Er kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie so leben, wie auch er gerne leben würde. Wenn er es nur könnte. Wenn er die Chance gehabt hätte. Sein Schmerz ist ungeheuerlich, die Möglichkeit, ihm Ausdruck zu geben, sehr begrenzt. "Ich verachte dich, weil ich gerne so wäre wie du, dazu aber nicht in der Lage bin" - ein unmögliches Argument. Der Verbitterte muss seinen natürlichen Impuls unterdrücken. Er muss seinen Neid herunterschlucken und kann ihn höchstens als moralisches Statement wieder ausschwitzen. Der Alte kann dem Jungen nicht offen verübeln, dass er jung ist; und trotzdem beneidet er ihn aus tiefstem Herzen. Anderen kann er nicht die Schuld geben für das, was er ist, sich selbst nur in geringem Maße. Viele Menschen leiden Höllenqualen, ohne das objektiv jemand daran schuld wäre. Wen könnten sie anklagen? Sollten sie etwa die Mutter Natur selbst vor Gericht zerren, weil sie es zulässt, dass bestimmte Menschen von Geburt an niemals auch nur den Hauch einer Chance haben werden? Oder vielleicht die allmächtige Zeit, die zu frühe oder zu späte Geburten zulässt? Sowohl Natur als auch Zeit werden sich ausschweigen, denn sie sind nur Konstrukte des menschlichen Geistes. Der Schmerz des verbitterten Herzens wird bleiben und sich damit trösten müssen, dass kein Herz unsterblich ist, auch die Herzen der lachenden Götter nicht.

Dienstag, 24. September 2013

Eine entdramatisierende Sicht auf das Leben

Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich beim Buddhismus in erster Linie um Erfahrung. Der abendländische Gegensatz zwischen Glauben und Denken, der unsere Kultur bestimmt, hält nicht die geeigneten Begriffe bereit, um den Buddhismus zu fassen. Denn er ist weder eine Philosophie noch eine Religion im eigentliche Sinne. Ein Buddhist ist kein Mensch, der ein bestimmtes Set von buddhistischen Axiomen als wahr ansieht, weil sie ihn rein intellektuell "überzeugt" hätten. Dann wäre der Buddhismus nur eine Philosophie unter anderen. Zweifellos macht es Sinn, von einer buddhistischen Philosophie zu sprechen; der Buddhismus ist aber weit mehr als das. Es gibt im Buddhismus keinen Himmel und keine Hölle, keinen Gott und kein wahres Wesen der Dinge. Er bietet eine hochgradig entdramatisierende Sicht auf das Leben, könnte man sagen. 

Ich ertappe mich selbst dabei, dass mein erster Schritt auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis dieser Lehre darin besteht, erst einmal ein paar Bücher darüber zu lesen. Nach dem Motto: Erst kommt die theoretische Erkenntnis, dann die entsprechende Praxis. Aber der Buddhismus ist gerade keine Theorie über das Leben, sondern erwächst aus dem Leben selbst. Jeder kann selbst nachforschen, ob das, was er da liest, auch stimmt. Niemand muss etwas glauben, was ihm oder ihr nicht selbst einleuchtet. In diesem Sinne laden uns buddhistische Texte dazu ein, die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen. Es geht nicht um die historische Welt des Buddha Shakyamuni vor 2500 Jahren, es geht einzig und allein um genau diesen Moment. Nur jetzt können wir herausfinden, ob seine Worte für uns eine Bedeutung haben können oder nicht. Es geht nicht darum, an Buddha wie an einen Heiligen zu glauben. Es geht um das Verstehen. Und das Verstehen ist immer aktuell und individuell, es kann nicht aus dem, was ein Buddha gesagt hat, herausdestilliert und vom  irgendeinem Katheder herab gelehrt werden. Es entsteht jetzt oder gar nicht. 

Die Lehre des Buddha ist nicht einheitlich, es gibt unzählige Schulen und Praktiken. Für jeden ist etwas dabei. Es gibt keinen Dogmatismus. Auch kommt es nicht darauf an, bestimmte Gebote zu befolgen. Die buddhistische Ethik beruht auf keinen starren Grundsätzen, die eine höhere Instanz verkündet. Ein Buddhist muss gar nichts - aber er wird sich darum bemühen, sein Mitgefühl zu entwickeln und tiefere Einsichten über das Wesen des Leids zu gewinnen. Einfach weil es dazu beiträgt, ein glückliches Leben zu führen und die Seele reinigt. Zwar gibt es auch jede Menge Richtlinien im Buddhismus, diese sind aber nicht Selbstzweck, sondern dienen der Orientierung. Wer auf das achtet, was in ihm oder ihr vorgeht, jede Regung in sich ruhig entstehen und vergehen lassen kann, ohne ihr eine besondere Bedeutung beizumessen, braucht keine heteronome Ethik. Wir können den Mechanismus des Leids durchschauen und müssen dann niemals wieder im Kreis der Verblendung laufen. Dann sind wir frei und können gehen, wohin immer wir wollen.

Montag, 23. September 2013

Vorfreude

Es wäre wohl das Beste, das Streben nach Glück endlich aufzugeben. Es führt zu nichts, als zu folgenlos in die Welt hinausgeträumten Erwartungen, die schneller sterben als Seifenblasen, die auf Grashalmen tanzen. Man sollte froh sein, wenn man eine Arbeit findet, von der man erstens existieren kann und die einen zweitens so sehr in Anspruch nimmt, dass man niemals mehr die Muße findet, um über sein Leben nachzudenken. Dieses hässliche ekelhafte Leben. Ich möchte keinen Träumen von einem besseren Leben mehr hinterherjagen. Ich will dieses Leben halbwegs schmerzfrei über die Bühne bringen, das ist alles. Mehr ist nicht realistisch. Ich werde mir viel Leid ersparen, wenn ich das endlich einsehe. Die Zeit, um interessante Gedanken zu entwickeln, ist vorbei. Handfestes bitte. Die Zeit ist gekommen, um sich Promi-Big-Brother anzusehen, denn man muss diese Sendung sehen, um über Dinge mitreden zu können, die einem im Innern gleichgültig sind und deshalb auch nicht verletzen können. Es ist wichtig, zu verdrängen und wegzusehen. Denn niemand will verletzt werden, niemand. Macht, dass ich niemals wieder frei sein, macht, dass ich niemals wieder einen klaren Gedanken fassen kann! Schützt mich davor, dass ich erkenne, was hier eigentlich gespielt wird! Setzt mich moralisch unter Druck, weil ich euren Maßstäben nicht entspreche! Denn je schlechter es mir geht, um so mehr Grund habe ich, mein Bewusstsein mit noch mehr Arbeit und Konsum zu betäuben! Ich gehöre nur euch. Solange war ich unglücklich, wie ich glaubte, allein irgendetwas bewegen oder verändern zu können. Bitte bearbeitet meine Seele, erpresst, vergewaltigt sie, aber bitte, bitte lasst sie nicht mit sich allein, allein mit dem Gewicht einer ganzen menschlichen Existenz! Ein ganzes menschliches Leben ist einfach zu viel für mich, das müsst ihr doch verstehen. Nehmt mir doch bitte den Teil meiner Menschlichkeit ab, der mir so schwer auf den Schultern lastet. Ihr dürft nicht zulassen, dass ich auf falsche Gedanken komme, denn ich liebe euch mit der zärtlichen Liebe eines zur Liebe unfähigen Sklaven. Peitscht mich aus, nur lasst mich nicht unbenutzt hier liegen! Diese Welt hält so vieles bereit, was ich noch nicht weiß. Es gibt so vieles zu lernen. Zum Beispiel die ganzen früheren Big-Brother-Staffeln, das ist so ein faszinierendes, ein so weites Feld. Hab mir jetzt die DVD geholt. Meine Philosophie-Bücher schmeiße ich alle in den Müll. Denken ist beknackt und man fühlt sich immer so elitär, wenn man was Schlaues sagt, was keinen interessiert. Das mag ich nicht. Aber über Wintersport kann ich mich mit meiner Großtante super unterhalten, da steht sie voll drauf. So mit Schiern über den Schnee, ich meine, das ich doch was Handfestes, damit kann jeder was anfangen. Außer den Negern, denn die leben hinter dem Mond, wo kein Schnee fällt. Das hat Uwe gesagt und Uwe weiß alles. Hat zumindest Uschi gesagt, von der ich den heißen Tipp mit dem Promi-Big-Brother bekommen habe. Ich freue mich heute schon wie ein kleines Kind darauf, morgen endlich ein Thema zu haben, über das ich mich mit ihr unterhalten kann. Bin schon etwas nervös, aber das wird sich legen, denke ich. Vermutlich werde ich Uschi sogar überraschen, denn ich nehme jede Folge auf, um sie ein zweites Mal schauen zu können. Deshalb bin ich top informiert. Ist es nicht toll, wenn man etwas hat, auf das man sich freuen kann?

Donnerstag, 1. August 2013

Vom Ausbluten einer Abstraktion

Im Grunde ist es unredlich, über das Glück zu philosophieren. Jeder assoziiert mit diesem Begriff etwas anderes. Selbst wenn zwei Menschen behaupten, dass sie das Gleiche glücklich mache, ist damit noch lange nicht gesagt, dass auch ihr Glück identisch ist. Die Liebe zu einem Lied beispielsweise ist mit vielen anderen Facetten auf das Engste verknüpft: mit Erinnerungen, Wissen, musikalischen Präferenzen, Stimmungen und vielem mehr. Niemand hat eine reines, ein unverdorbenes Ohr, niemand hört ein Lied so, wie es ist, sondern nur so, wie er es hören kann. Wenn zwei Menschen sagen, dass sie das gleiche Lied inspiriere, könnte man annehmen, auch ihre Inspiration sei identisch. Fragt man sie jedoch, was sie an der Musik bewege, wird man verschiedene Antworten erhalten, die ihre eigentlichen Hörerlebnisse bestenfalls erahnen lassen. Oder ein anders Beispiel: Religiöse Menschen fühlen sich durch den Glauben an Gott verbunden. Zum Glück kann ihnen niemand in die Köpfe schauen, außer eben Gott selbst. Er würde sicher nicht schlecht staunen, wenn er sähe, in welch vielfältiger Form er sich in den Geistern der Menschen spiegelt. Jeder Mensch vermag nur an das Bild zu glauben, das er sich von seinem Gott gemacht hat. Deshalb kann ein religiöser Hetzer niemanden vorwerfen, dass er nicht an Gott glaubt. Denn kein Mensch kann an den gleichen Gott glauben wie ein anderer, das ist unmöglich.

Aber zurück zum Glück. Woher kommt eigentlich diese ungeheure Anmaßung, die Frage nach dem Glück für alle Menschen verbindlich beantworten zu wollen? Warum begnügen sich die Menschen nicht damit, sich an dem unverwechselbaren Aroma ihres Glücks zu erfreuen? Alle Weisheit ist schädlich, die nicht aus dem Leben selbst geschöpft, die nicht individuell und damit passgenau ist. Sich nach einem Buch zu richten, und sei es auch noch so verständig, erzeugt nur neue geistige Abhängigkeiten. Der Leser sucht sich selbst zwischen den Zeilen. Er freut sich, Gedanken zu lesen, die er bereits kennt, die er bisher aber nicht zu einer prägnanten Formel zu verdichten wusste. Solange wir lesen, können wir bestenfalls Bestätigung und Orientierung finden; es ist unmöglich, sich selbst mithilfe eines Wusts von Abstraktionen zu verstehen. Was könnte hilfloser sein, als der Versuch, der eigenen Individualität durch eine Besinnung darauf, was der Mensch sei, auf die Spur zu kommen? Der allgemeine Mensch verpflichtet zu nichts, er bleibt eine verschwommene Figur, ein einziges großes Ungefähr. Wir sollten uns eingestehen, dass Menschen verschieden und nur im Plural zu haben sind und dass uns deshalb egal sein kann, was den allgemeinen Menschen glücklich macht. Sicherlich gibt es Eigenschaften, die bestimmte Menschen gemein haben und die sie von anderen unterscheiden. Diese können Orientierung bieten. Daher wäre zu überlegen, ob nicht jeder Autor, der über ein essentielles Thema wie das Glück schreibt, dem Leser nicht ein paar Hinweise auf seine Person mitgeben sollte. Ist er eher introvertiert oder ein Partymonster? Lebt er allein oder hat er eine Familie? Woran glaubt er und wie? Welche Krankheiten oder psychischen Störungen haben sein Leben begleitet? Aus was für einer Familie stammt er? Die nichtssagende Feststellung, dass die Philosophen sich nicht darauf haben einigen können, was das Glück denn nun sei, könnte durch die Bemerkung ersetzt werden, dass jede ihrer Antworten richtig war, wenn sie sie nur nicht verallgemeinert hätten. Wir sollten ehrlicher sein. Auch ich tue ja nur so, als ob ich über das Glück schriebe, obwohl ich in Wahrheit nur mein eigenes biographiere.

Dienstag, 30. Juli 2013

Nächtliche Gedanken

Wenn es zutrifft, dass jene Gefühle, die wir mitzufühlen meinen, in Wahrheit unsere Gefühle sind, die wir in andere projizieren, dann ist jedes Mitleid Selbstmitleid.

Menschen, die sich schuldig fühlen, wenn sie einmal nichts weiter tun, als auf ihre eigenen Gefühle zu achten, sollte man dazu ermuntern, dies aus Rücksicht auf andere zu tun. Denn das Mitgefühl für andere können wir nur entwickeln, wenn uns selbst gegenüber achtsam sind. Wer in Einsamkeit meditiert, verbiestert nicht, sondern trainiert aktiv sein Mitgefühl. 

Es ist nicht egoistisch, glücklich sein zu wollen. Die Gegenwart eines wahrhaft glücklichen Menschen beseelt alle, die ihm begegnen. Der eigentliche Egoismus besteht also darin, nicht glücklich sein zu wollen.

Die Grundlage des Mitgefühls besteht darin, dass ich mir bewusst mache, dass alle Wesen leidensfähig sind. Die Grundlage des Mitgefühls besteht also unredlicherweise darin, dass ich von mir auf andere schließe. Ich unterstelle ihnen einfach, dass es ihnen nicht substantiell anders geht als mir. Tue ich dies nicht, verliere ich diesen erträumten und erdichteten Zugang zu ihnen wieder. Ist also Unredlichkeit die Grundlage des Mitgefühls?

Wer Angst vor seinen Schwächen hat, hat Angst vor seiner Menschlichkeit.

Wir verstehen nie die Wirklichkeit, sondern das, was unser Geist Mundgerechtes aus ihr zubereitet hat. Worum sind wir so scharf darauf, die Wirklichkeit zu verstehen, also von ihr zu abstrahieren, anstatt sie zu erfahren? Ist die Reflexion nicht unendlich viel ärmer als jede Erfahrung? Sind wir denn nicht nur ganz, insofern wir erfahren?

Ich denke gar nicht daran, mich gut zu verkaufen, weil meinen Preis ohnehin niemand bezahlen könnte.






Donnerstag, 25. Juli 2013

Der Anfang aller Dinge

Wenn ich glaube, dass mir niemand vertraut, dann werde ich dies auch ausstrahlen. Die Folge davon wird sein, dass mir tatsächlich niemand vertraut. Unsere Beziehungen sind immer zweiseitig: Wenn wir anderen misstrauen, werden wir auch in ihren Augen über kurz oder lang den Status einer vertrauenswürdigen Person verlieren. Werfen wir einem Menschen mit zorinigen Worten vor, dass er Angst vor uns habe, so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn er uns sagt: Ja, allerdings. Man kann niemandem vorwerfen, dass er nicht liebt, ohne mit dem Finger auf die eigene Lieblosigkeit zu zeigen. Denn die Liebe klagt nicht an. Sie ist produktiv. Das Handeln dessen, der liebt, hört auf, die bloße Wirkung einer äußeren Ursache zu sein. Ein solcher Mensch sagt nicht: Weil mich keiner anruft, werde auch ich niemanden anrufen. Der Liebende wartet nicht, bis er jemanden gefunden hat, der ihn versteht. Er ist aktiv. Seine Liebe ist ihm der Anfang aller Dinge.

 

Dienstag, 23. Juli 2013

Altherrenpsychologie

Wenn sich Psychologen als Autoren versuchen, dann liest sich das oft so, als ob sie über einen Feind schrieben. Als Betroffener muss man sich geradezu schuldig fühlen, wenn man einen Blick in ihre Bücher wirft. Viele Psychologen meinen, moralische oder gesellschaftspolitische Statements abgeben zu müssen. Gerne spielen sie sich als einsame Warner auf, die eine Wahrheit verkünden, die nur allzu gern überhört wird. Sie wollen wirken und gehört werden. Also immer schön verallgemeinern und monokausal erklären, damit es auch der Dümmste versteht! Immer feste druff! Warum individualpsychologische Erkenntnisse nicht gleich auf ganze Gesellschaften übertragen? Wozu denn methodische Bedenken? Den Infantilismus könne man nur überwinden, wenn man selbst eine Familie gründe, schreibt etwa Flöttmann. Wer sich dem verweigere, könne niemals wahrhaft erwachsen werden. Damit schwingt sich Flöttmann zu jemandem auf, der anderen unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Psychologie zu verstehen gibt, wie sie zu leben haben. Er ist konservativ orientiert. Maaz, der im Gegensatz zu Flöttmann keine infantile, sondern eine narzisstische Gesellschaft meint diagnostizieren zu müssen, entdeckt hinter jeder hervorragenden Leistung in Sport, Kunst oder Wissenschaft das letztlich zum Scheitern verurteilte Bemühen eines Menschen, seine innere Leere zu überspielen. Daraus zieht Maaz den Schluss, dass es besser sei, zugunsten des menschlichen Glücks auf solche Leistungen zu verzichten. Leider kommt er mit diesem Gedanken viel zu spät. Wäre er schon früher gehört worden, hätte sich vielleicht nie eine Psychologie moderner Prägung herausgebildet. Und damit wäre uns diese ungewollt komische Altherrenpsychologie erspart geblieben.

Samstag, 20. Juli 2013

Wider die Sekte

Unter dem Vorwand, die Menschen zusammenzuführen, hat die christliche Religion sie seit jeher in Gläubige und Ungläubige unterteilt. Es genügt den Gläubigen nicht, wenn jemand aus einer menschlichen Gesinnung heraus handelt, solange er dies nicht in Namen Gottes tut. Die Christen sehen sich natürlich auf der Seite des Guten, das in dieser gottlosen Welt tragischerweise zumeist kraftlos verpufft. Immer sehen sie doppelt. In Gesprächen mit ihnen gelingt es mir kaum, sie einmal zu einem Perspektivwechsel zu ermuntern. Nein, ihr ganzes Seelenleben scheint auf diesen Dualismus ausgerichtet zu sein, der die Beweglichkeit ihres Geistes lähmt. Sie können sich oft nicht von sich selbst distanzieren. Wer das von ihnen verlangt, kann eigentlich nur mit dem Satan im Bunde stehen. Sie sind immer im Recht. Entweder ist ihr Gegenüber ungläubig, womit dessen Niedertracht schon halb bewiesen ist, oder es ist gläubig, ließ sich aber vom wahren Weg abbringen. So spielen die Christen gern den wahren Glauben gegen den Irrglauben aus. Alles Verwerfliche, Kranke und Boshafte, das in der Geschichte im Namen Christi getan wurde, weisen sie strikt von sich. Jesus ist rein, seine Lehre die tiefste an Weisheit und Güte. Missgriffe unterlaufen immer nur den armen Menschenkindern hienieden, die diese göttliche Lehre nicht richtig verstehen oder sie absichtlich verfälschen.

Die schlichte Frage, warum ich mich sündig fühlen solle, kann mir kein Christ beantworten, ohne die Sünde als Faktum vorauszusetzen. Dass die eigentliche Sünde darin bestehe, andere Menschen sündig zu sprechen, ist ein Satz, den sie in der Regel nicht verstehen. Sie wehren sich sogar dagegen, ihn zu verstehen. Die Christen wollen sich als aus dem Paradies vertriebene, nach Gnade lüstern über diese Erde schweifende Wesen fühlen. Niemand kann sie davon abbringen, an ihre eigene Sündhaftigkeit zu glauben. Sie brauchen das, sie wollen sich im Schlamm ihrer Verworfenheit suhlen. Mehr noch: Sie fordern auch von anderen, sich in diesem Schlamm zu suhlen. Das nennt man Mission. Die Mission ist sicherlich mit das Unappetitlichste des ganzen Christentums. Bei ihr geht es, ähnlich wie in der Werbung, darum, Menschen etwas zu verkaufen, das sie nicht gebrauchen können. Niemand, dem es gut geht und der sich des Lebens erfreut, würde sich so ohne Weiteres sagen lassen, dass er ein sündiges Wesen sei, das nur durch die Gnade Gottes gerettet werden könne. Folglich muss in einem solchen Menschen die nötige Selbstverachtung erst sorgsam wachgeküsst und seine innere Not behutsam herangezogen werden, bis er sich seelisch als so ausgedörrt und vertrocknet empfindet, dass er den Glauben nötig hat. Nur getrübte Seelen fallen der Sekte zum Opfer.

Die Christen erklären, dass der Mensch allein zu schwach und verworfen sei, um sein Leben selbst zu gestalten. Auch glauben sie, dass kein Sterblicher die göttliche Weisheit jemals ganz ergründen werde. Der Mensch ist also weder in der Lage, auf eigene Faust zu leben, noch dazu fähig, die ungeschminkte Wahrheit zu erkennen. Was er erkennt, ist nichts, es sei denn vielleicht eine unscheinbare Blüte vom Strauß höherer Weisheit. Das Infantile Moment ist dem Christentum immanent. Denn einzig der Herr weiß, was gut für seine Kinder ist, nur seinen Worten darf uneingeschränkt vertraut werden. Viele Menschen heute fühlen sich überfordert. Sie sehnen sich nach jemandem, zu dem sie aufblicken können. Jemand, der ihnen hilft und der sie liebt, nicht irgendwie, sondern so, wie sie sind. Gott ist zu dieser Liebe wie geschaffen, denn er ist gütig und weiß alles. Vor Gott gibt es keine Geheimnisse, darum ist seine Liebe die reinste: Sie sieht direkt auf den Grund des menschlichen Herzens. Wer sonst niemanden hat, darf sich doch daran erfreuen, dass Gott ihn liebt, und zwar tiefer und inniger, als dies ein Mensch je könnte. Deshalb gibt es Menschen, die die Liebe zu einem wirklichen, lebendigen und von warmem Blut durchströmten Partner wegwerfen, um sich stattdessen der ewig sicheren Liebe eines Gottes hinzugeben, der sich gegen ihre Liebesbezeigungen nicht wehren kann.

Donnerstag, 18. Juli 2013

Widersprüche

Man stelle sich jemanden vor, der eine Auffassung vertritt, die uns zutiefst zuwider ist, sie uns gegenüber allerdings mit viel Intelligenz, Phantasie und menschlicher Wärme vorträgt. Wir würden bei einer solchen Person nie den Impuls verspüren, sie schon aufgrund ihrer bloßen Meinung moralisch in den Boden zu stampfen, wie wir dies in der Regel leider allzu gern tun.

Oft fühlen wir uns nur deshalb im Recht, weil es unsere Gegner nicht für nötig erachten, uns zu widerlegen. Eine Meinung so ohne jeden Widerspruch, so ganz ohne Gegenwehr zu besitzen, hat etwas ungemein Ermüdendes. Die Versorgung des stehenden Heeres des immer gleich Gemeinten ist anstrengender, als sich mal wieder so richtig schön ins Unrecht zu setzen. Das Falsche, Überzeichnete und absichtlich Verworrene zu sagen, kann ein Kunstgriff sein, um raffiniertere Geister aus der Reserve zu locken. Ohne Widerspruch gehen wir ein. Doch warum sollte es uns etwas ausmachen, ob die Überzeugungen, für die wir kritisiert werden, auch tatsächlich die unsrigen sind? Wissen wir denn immer so genau, wovon wir eigentlich überzeugt sind? Muss man nicht auch bereit sein, eine Narrenkappe zu tragen, um der Wahrheit die Treue zu halten? Wenn wir immer nur sagen, was wir denken, und immer nur tun, was unserem Wesen entspricht, werden wir vieles niemals erfahren. Wenn wir Erfahrungen machen, warum dann ausgerechnet immer als wir selbst? Warum nicht als jemand anderes?

Dienstag, 16. Juli 2013

Leid und Lebendigkeit

Wenn wir uns mit einem bestimmten Bild unserer Selbst identifizieren, machen wir uns verletzlich. Je mehr wir darauf bestehen, dieses und nicht jenes zu sein, desto mehr versteifen wir uns, desto unbeweglicher und schwerfälliger wird unser Geist. Etwas definieren heißt, ihm eine Grenze zu ziehen. Wer sich selbst definiert, setzt sich selbst Grenzen. Wollen wir wissen, wer wir sind, müssen wir unterscheiden zwischen dem, was uns ausmachen soll, und dem, was wir auf gar keinen Fall mit unserem Namen assoziiert sehen möchten. Die so entstandene Identität gerät immer dann ins Wanken, wenn uns wieder einmal deutlich geworden ist, dass wir kaum etwas anderes tun, als Behauptungen über uns selbst aufzustellen, die von der Wirklichkeit mit Leichtigkeit widerlegt werden können. Viele Leiden rühren daher, dass wir uns an etwas festkrallen, das längst tot oder nur der Eitelkeit entsprungen ist. Eine Frau fürchtet das Alter, ein alter Mann den Tod, ein Kind den Tadel. Die Frau definiert sich als schöne, attraktive Person, deshalb bereiten ihr die ersten grauen Haare Kummer. Der alte Mann meint, etwas versäumt zu haben, und will deshalb das Letzte aus seinem siechen Leben herauspressen. Das Kind möchte gelobt und als liebenswertes Wesen wahrgenommen werden, weshalb es alles tut, um sich bloß keinen Tadel anhören zu müssen. In jedem dieser Beispiele haften die Personen an einem bestimmten Bild ihrer Selbst. Deshalb werden sie leiden, sobald ihnen das Leben einen Strich durch die Rechnung macht. Und das Leben wird niemals zögern, sich diesem göttlichen Spaß hinzugeben.

Vielleicht sollten wir uns als Kräfte betrachten, die nur sind, insofern sie tätig sind. Es gibt keine Kraft jenseits ihrer Wirkung. Für uns könnte dies bedeuten, dass wir uns selbst nicht mehr definieren oder, falls dies einmal nicht zu vermeiden sein sollte, nichts Besonderes von uns annehmen. Wir sind eben alle Menschen mit diesem oder jenem Namen. Das genügt an fester Identität. Nur insofern wir etwas tun, sind wir. Wenn wir mit dem Musizieren aufhören und uns hinlegen, legen sich keine Musiker hin, sondern Menschen, die musiziert haben. Unser Tätigsein ist dann schon zu etwas Vergangenem geworden und also nichts mehr, das für uns noch irgendeine Bedeutung haben kann. Wir können uns auf nichts ausruhen. All unsere Abschlüsse und Auszeichnungen, die wir unter Mühen angesammelt haben, sind, ebenso wie die Meinungen, die sich andere von uns gebildet haben, letztlich wertlos, meinen wir, mit ihnen irgendetwas Festes, Bleibendes in Händen zu halten. Der Menschen ist lebendig oder er ist nicht.

Montag, 15. Juli 2013

Sorgende Seelen

Sorgende Seelen brauchen immer jemanden, dem es schlecht geht, um ganz sie selbst sein zu dürfen. In einer Welt, in der alle glücklich wären, hätten sie nichts zu tun. Sie schluchzen mit den Kranken, aber sie würden noch viel lauter schluchzen, wenn es keine Kranken mehr gäbe. Der Gedanke, dass es unsterbliche, sich ewigen Jugend erfreuende Menschen geben könnte, reißt sie aus den Träumen. Nein, sagen sie, der Tod muss leben! Sie leben davon, dass es Leid gibt. Folglich werden sie sich hüten, es gänzlich abschaffen zu wollen. Eher noch werden sie es als unausweichlichen Bestandteil eines jeden menschlichen Lebens heiligsprechen.

Samstag, 13. Juli 2013

Pure Beauty

Alexa war ein liebes Mädchen. Wenn sich der Vorhang hob, bestand ihre einzige Sorge darin, dass sie den Ton nicht treffen könnte. Sie übte fleißig; ihre Eltern unterstützten sie dabei. Keine Frage, sie hatte Talent. Ihre Stimme war zart und angenehm. Sie hätte überall auftreten können. In Einkaufszentren und auf Volksfesten. Wie so viele andere Mädchen auch, die Sängerin werden wollen. Weniges in der Welt könnte schneller vergehen, als das Lächeln, das mir ihre Auftritte auf's Gesicht gezaubert haben. Man konsumiert sie und vergisst sie. Viel mehr lässt sich zu Alexa nicht sagen.

Ganz anders Dark Pussy. Sie musste sich nicht vorstellen, wie es ist, traurig zu sein, um ein trauriges Lied zu singen. Man brauchte sie nur anzusehen und schon erahnte man die halbe Geschichte ihres Lebens. Noch nie hatte ich ein so verletzliches und verletztes Wesen gesehen. Ständig schwankte sie zwischen überdreht-explosiver Fröhlichkeit und völligem In-sich-Versenktsein auf ihren dürren Beinen hin und her. Nie wusste man, was sie als nächstes anstellen würde. Aber aus irgendwelchen Gründen musste man sie lieben. Irgendetwas war bei ihr zerstört oder zumindest sehr durchlässig geworden, das andere vor dem Dreck dieser Welt schützt. Wie eine offene Wunde kam sie mir vor. Ich fühlte mich beinahe schuldig, sie auch nur anzusprechen, so zerbrechlich wirkte sie auf mich. Doch sobald sie die Bühne betrat, verwandelte sie sich. Noch heute kann ich nur mit Gänsehaut über jene wundersamen Metamorphosen sprechen, deren Zeuge ich damals sein dürfte. Ihr Gesang war herb und düster, dann wieder zart und heiter. Mit einer überirdischen Sicherheit und Kraft gab sie allem Ausdruck, was sonst nur dunkel und in Schweigen getaucht auf dem Grunde ihrer kranken Seele wohnte. Pure Beauty. Perfektion. Sie suchte die richtigen Töne nicht; sie drängten zu ihr und wollten durch ihren brüchigen Mund ins Leben treten. Dank Dark Pussy ist mir klar geworden, was das Talent vom Genie trennt. Es sind nicht Grade oder feine Übergänge, sondern ein anderes Sein, eine andere Intensität

Alexa fühlte sich als Sängerin, aber nicht nur. Nach den Vorstellungen war sie wieder ein glückliches Mädchen, das mit ihrem Hund rausging oder an Jungs dachte. Sie musste improvisieren, wenn sie vor Publikum sang. Etwas darstellen. Dark Pussy musste niemals improvisieren und sie fürchtete auch nicht, dass ihr etwas misslingen könnte. Auf der Bühne fühlte sie sich geborgen wie ein Embryo im Mutterleib. Das Leid, von dem sie sang, war ihr Leid. Sie hatte keine Wahl; sie musste ihr Lied singen, ihre eigenen Verse, geschrieben mit ihrem eigenen Blut. Große Künstler spielen nicht mit Masken; sie finden durch die Kunst erst zu sich. Als Künstler sind sie wahrere, lebendigere Menschen, als sie es sonst, im sogenannten wirklichen Leben je sein könnten. Wer meint, Kunst sei nur schöner Schein, nur glitzerndes Wellenspiel auf einem tiefem Meere, der hat nur Mädchen wie Alexa in den Supermärkten dieser Welt auftreten sehen.


The House of the Rising Sun (Sinéad O’Connor)


Sonntag, 7. Juli 2013

Eris' Peitsche

Vor folgende „Wahl“ hat mich Eris, die Göttin der Zwietracht, schon oft gestellt. Wie kann ich dieses elende Spiel endlich gewinnen und ihrer Peitsche entkommen?

Sprich, und ich werde dich auspeitschen! Sprich nicht, und ich werde dich ebenso auspeitschen! Nun wähle!

Wenn du sprichst, werden deine Worte Zweifel erwecken. Ein jeder wird sich fragen, warum du ausgerechnet über dieses und nicht über jenes sprichst. Viele reden nur deshalb mit einer solchen Lebhaftigkeit von etwas, um von etwas anderem abzulenken. Reden ist auch ein Schweigen. Eine Meinung ist auch ein Versteck. Jeder wird sich fragen, warum du überhaupt etwas sagst, anstatt einfach zu schweigen. Warum du es nötig hast, deine Gedanken mitzuteilen. Wer bist du denn, dass man sich für dich und deine Geschichte interessieren sollte? Niemand erwartet irgendetwas von dir, warum also sprichst du? Warum drängst du dich in den Mittelpunkt und versammelst so viel Aufmerksamkeit auf deine unbedeutende Person? Weil du den Frieden störst, werde ich dich auspeitschen, sobald du auch nur ein Wort gesagt hast!

Wenn du nicht sprichst, wird man sich fragen, ob du etwas zu verheimlichen hast. Niemand liebt Menschen, die wie tiefe Wasser sind. Was führst du im Schilde? Welche Dämonen brütest du auf dem Grunde deiner Seele aus? Wer sollte dir glauben, wenn du nichts sagst? Woran sollten die Menschen erkennen, dass du es gut mit ihnen meinst, wenn du sie nur freundlich anschweigst? Die Welt gehört denen, die ihr Herz auf der Zunge tragen. Man vertraut ihnen, weil sie sagen, was sie denken. Sie haben gar keine Zeit, um sich irgendwelche Hintergedanken zu machen. Warum so abseits? So am Rand? Warum gehst du nicht zu ihnen? Trägst du einen geheimen Groll in dir, den du vor ihnen verbergen musst? Willst du mit deinem unerträglichen Schweigen die heitere und fröhliche Stimmung unter den Menschen zerstören? Es ist ganz gleichgültig, was du denkst. Weil du es nicht aussprichst, bleibst du eine ungewisse, eine unklare Figur. Weil du den Frieden störst, werde ich dich auspeitschen, sobald du auch nur ein Wort nicht gesagt hast!

Dienstag, 2. Juli 2013

Sei nicht du selbst!

Viele Menschen werden ihr ganzes Leben lang von dem Gefühl geplagt, immer irgendetwas falsch zu machen. Und zwar aus Gründen, die ihnen selbst nicht durchsichtig sind. Sie verstehen nicht, warum sie immer auf der Seite derer stehen, die sich rechtfertigen müssen. Worum es auch geht, sie ahnen schon vorher, dass sie sich einmal mehr werden erklären müssen. Warum etwas, womit sonst niemand Probleme zu haben scheint, ihnen nicht oder nur schwer möglich ist. Es ist alles andere als aufmunternd, wenn man einem stillen Kind sagt, dass es aus sich herausgehen solle. Denn so lernt es schon früh, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Wenn es nämlich wirklich introvertiert und also nicht bloß aufgrund einer vorübergehenden Traurigkeit still ist, dann wird es niemals aus sich herausgehen können. Das würde es als belastend und unnatürlich empfinden, so wie die unsensiblen Erwachsenen, die es mit gut gemeinten und schlecht getanen Ratschlägen überhäufen, sein Verhalten als belastend und unnatürlich empfinden. Diese Kind läuft also Gefahr, für alle Zeiten in einem Kreis von Erwartungen zu laufen, die es nicht erfüllen kann, ohne dem eigenen Wesen Gewalt anzutun. Was es wirklich will, ist nicht dieses ominöse Aus-sich-Herausgehen, sondern jemanden, der es ernstnimmt. Der ihm keine neuen Selbstzweifel einpflanzt. Wenn dieses Kind ein introvertierter Mensch ist, dann ist jedes freundliche Wort, das etwas aus ihm herauskitzeln will, das in ihm nicht angelegt ist, eine tendenzielle Beleidigung. Denn es besagt Folgendes: Sei nicht du selbst! So wie du bist, bist du eine Zumutung!

Montag, 1. Juli 2013

Mut zur Gewohnheit

Wir lehnen gerne bestimmte Handlungen ab, weil wir hinter ihnen egoistische Motive vermuten. Wir erwarten aber, dass die Handlung eines anderen echt sein möge. Seine Spende für die Armen erkennen wir nur an, wenn sie im naiven Bewusstsein des Guten getan wird. Sobald wir auch nur das kleinste Zeichen eines unausgesprochenen Hintergedankens entdecken, werden wir misstrauisch. Sehr schnell entwerten wir dann die ganze Handlung, brandmarken sie als unehrlich und scheinheilig. Wenn wir an den Motiven zweifeln, sind wir unweigerlich auch selbst gespalten, sprich: misstrauisch.

Setzen wir jedoch voraus, dass das Gute etwas ist, das sich entwickeln und wachsen muss, dann wäre ein egoistisch motiviertes Handeln für den Anfang gar kein Problem. Wenn wir uns ändern wollen, dann können wir dies nur mit einem ganz klaren Bewusstsein, also einem Bewusstsein, dem es noch sehr an Selbstverständlichkeit und Gewohnheit mangelt. In dieser Phase merkt man uns an, dass wir gut handeln wollen - und deshalb misstraut man leicht unseren Motiven. Es wirkt nicht so, als ob wir ganz da seien. Aber diese Phase ist nun einmal unausweichlich. Wir müssen sie akzeptieren. Das Problem ist nicht, dass wir aus egoistischen Motiven handeln, sondern dass wir uns einreden, wir dürften dies unter keinen Umständen tun. Denn damit verbauen wir uns die Möglichkeit, uns an ein bestimmtes Handeln zu gewöhnen. Dabei leisten uns auch jene einen Bärendienst, die nur ein Handeln gelten lassen wollen, das aus einem absolut reinen Herzen stammt. Deshalb sitzen wir in der Falle: Wir glauben an unser Gutes nicht, weil wir gelernt haben, unseren eigenen Motiven zu misstrauen.

Wir sollten uns eingestehen, dass wir eitel sind, dass wir nach Anerkennung gieren, dass wir uns aufblasen, um andere zu blenden, dass wír nicht halb so liebenswürdig sind, wie wir es gerne wären. Das ist aber alles nicht schlimm, sofern wir darauf vertrauen, dass unser Gutes erst viel später zu seiner Reife gelangen und wirklich gut werden wird. Uns bleibt nichts übrig, als dreckig anzufangen, mit dreckigen Gründen und aus niedrigen Motivationen. Wenn wir uns die Freiheit herausnehmen, uns ein gewisses Handeln anzugewöhnen, dann wird sich auch unser Gutes mehr und mehr aufhellen. Wir tun es dann irgendwann nicht aufgrund unserer niederen Motive, sondern weil wir eben immer so handelten, mit anderen Worten: weil es zu unserer Gewohnheit geworden ist, so zu handeln. Irgendwann werden wir das klare Bewusstsein der Motive unserer Handlungen verlieren, wenn wir nur den Mut zur Gewohnheit aufbringen. Könnte es nicht sein, dass die vielgepriesene Reinheit des Herzens etwas ist, das sich erst im Laufe einer langen Entwicklung herausbilden muss? Könnte diese Reinheit nicht ein sekundäres Phänomen sein?

Sonntag, 30. Juni 2013

Noch einmal das Glück

Es hat auch Vorteile, dass wir durch Sprache niemals auszudrücken vermögen, was wir fühlen. Denn daraus folgt, dass die Unglücklichen immer nur erahnen können, was es hieße, glücklich zu sein. Sie wissen nicht, was ihnen eigentlich fehlt. So bleibt ihnen wenigstens das Refugium der Zufriedenheit.

Jedem Glück ist immer auch etwas Unerwartetes und Überraschendes beigemeischt. Wenn all unsere Träume in Erfüllung gingen, wären wir deshalb noch lange nicht glücklich. Dann wäre lediglich eine Kalkulation aufgegangen. Glücklichsein bedeutet auch, dass Träume wahr werden, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie je träumten. Nur das Unerwartete befriedige vollkommen, schreibt Dávila. 
  
Auch wenn man nicht glücklich ist, sollte man sich doch immer auf die Seite derer stellen, die es sind. Um an dem Glück anderer nicht zu zerbrechen, bleibt uns nur ein Weg offen, nämlich der Weg der Mitfreude.




Samstag, 29. Juni 2013

Allzu irdisch

Die meisten Aliens, denen ich bisher begegnet bin, schätzen den Buddhismus sehr. Abgesehen von einigen metaphysischen Implikationen, die sie als allzu irdisch empfinden, freuen sie sich sehr darüber, dass diese Lehre das Leid aller leidensfähigen Wesen berücksichtigt. Damit können sie etwas anfangen. Über den Provinzialismus etwa eines Christentums, das den Menschen als die Krone der Schöpfung ansieht, können sie nur lachen. Aber sie sind auch nachsichtig, wissen sie doch, dass die meisten Rassen, die auf ihren Planeten die Vorherrschaft erlangen, zunächst davon ausgehen, etwas im Universum Einzigartiges zu sein. Dank den Aliens denke ich heute besser über die Menschen, denn mir ist bewusst geworden, dass nicht nur die liebe Affenbande, der ich angehöre, Unheil anrichten kann. Es scheint vielmehr dem natürlichen Gang der Dinge zu entsprechen, dass eine Rasse massive Probleme verursacht, sobald sie zu erkennen beginnt. Die Aliens betrachten die ökologische Bewegung auf der Erde mit anderen Augen. Sie deuten sie als den ersten ernstzunehmenden Versuch der Menschen, den notwendigen Ausgleich mit der Natur zu finden. Ähnliches habe sich schon auf vielen Welten ereignet.

Wenn ich nachts nicht schlafen kann, gehe ich gern spazieren. Der Anblick der Sterne stimmt mich fröhlich. Die Begegnungen mit den Aliens haben mich der allzu irdischen Weisheit schon arg entfremdet. Ich fühle mich als Kind des Universums, das seine Aufgabe darin sieht, den Bund zwischen allen Wesen vorzubereiten. Oft erwische ich mich dabei, wie ich mein Leben aus einer kosmischen Perspektive betrachte. Das wird sich wohl nicht noch einmal ändern. "Habe Vertrauen in die Menschen." Sie werden nie müde, mich aufzumuntern. Ich liebe sie. Doch wem könnte ich von ihnen erzählen? Mir glaubt ja doch keiner. Deswegen brauche ich diese Begegnungen auch nicht zu verheimlichen. Eine Wahrheit, die einem keiner abnimmt, kann man ohne weiteres aussprechen, weil sie für eine Lüge gehalten wird. Oder ein Spaß ...

Dienstag, 25. Juni 2013

Erntezeit

Sollte ich mich schämen, weil ich an die unendliche Schönheit einer jeden menschlichen Seele glaube? Ich kann es nicht mehr. Ich fühle so viele gute Dinge in mir reif werden. Jetzt ist Erntezeit. So viele Winterschlafe und Einsamkeiten hatte mein jung gealtertes Herz an irgendeinem verborgenen, von mir und der Welt schon fast vergessenen Ort zugebracht; doch all die Zeit hindurch reifte es, so wie ein guter Wein reift. Wen sollte es also verwundern, dass mein Glück anders schmeckt als das, was den meisten Menschen süß auf der Zunge liegt? Was mir auch widerfuhr, nichts davon war vergebens. Selbst die bittersten Erfahrungen betrachte ich als Ingredienzien, die nicht fehlen dürften, um den unvergleichlichen Geschmack dieses Glücks und dieser Dankbarkeit hervorzuzaubern. Tausende Weisheiten umlagern mich, bedrängen mich, dass ich sie doch endlich ins Wort setzen möge. Wie verspielte Kätzchen laufen sie mir überallhin nach, weichen keinen Moment von mir.

Montag, 24. Juni 2013

Nun lach' doch mal!

Nun lach' doch mal! Mit diesen Worten einer Mutter, gerichtet an ihr Kind, lässt sich einiges erklären, was für ein Verständnis unserer Beziehungen wertvoll sein kann. Die Mutter bemängelt an ihrem Kind, dass es nicht lacht. Anstatt sich des Lebens zu erfreuen, schaut es mit in sich gekehrtem Blick umher. Man merkt ihm an, dass es lieber woanders wäre. Was tut die Mutter? Sie will das Kind lachen sehen. Auf dieses Lachen kommt es ihr an, darauf, ihren Schützling als Sonnenschein preisen zu dürfen. Es interessiert sie nicht, wie es ihrem Kind geht. Keine Nachfrage, kein Trost, keine Umarmung. Nein, sie verlangt eine rein mechanische Äußerung der kindlichen Gesichtsmuskeln, damit sie sich selbst besser fühlen darf. Sie lässt sich auf ihr Kind gar nicht ein, sondern behandelt es wie ein Objekt, das zu funktionieren hat.

Kein Mensch ist an sich traurig. Es sind die Beziehungen zu anderen, die ihn traurig machen, ihre unbefriedigende Qualität oder ihr gänzlicher Mangel. Die Mutter steht in Beziehung zu ihrem Kind, aber sie versteht nicht, dass sie selbst im höchsten Grade dafür verantwortlich ist, dass es traurig ist. 

Sonntag, 23. Juni 2013

Misstrauen als Weltlosigkeit

Viele Leiden bleiben einem unbekannt, wenn man sich in sich selbst verpanzert. Doch der Schmerz, sich überhaupt verpanzern zu müssen, hängt doch traurig über all jener Sicherheit, die man auf diese Weise gewinnt. Der Diktator, der im Bunker sitzt und der trostlosen Melodie der Bomben lauscht, mag sicher sein. Aber er lebt in einer ihm feindlichen Welt. Er darf nicht die Wärme der Sonne auf seiner Haut fühlen, sondern muss sich mit dem künstlichen Schein einer Glühbirne abfinden. Wenn er noch oben blickt, darf er keinen weiten blauen Himmel über sich ausgespannt fühlen, sondern hat nur das schäbige Weiß der Bunkerdecke vor Augen. Kein Vogelzwitschern dringt an sein Ohr, sondern allenfalls das leise dumpfe Geräusch, wenn die Motte einmal mehr von der Glühbirne abprallt, in dessen sterile Flamme sie sich so gerne stürzen würde. Der misstrauische Mensch ist sicher. So sicher, wie der Boden sicher ist, auf dem er steht. Aber weiter reicht seine Welt nicht. Sein ganzer Lebensraum ist zusammengezogen auf die enge Zelle seines Bewusstseins.

Solange man misstraut, ist man kein Bewohner dieser Welt. Zwar atmet man ihre Luft, doch nur wie ein Dieb, der fürchtet, erwischt zu werden. Es stimmt nicht, dass man geheilt werden könnte, fände man nur den einen Menschen, dem man vertrauen könnte. Der Diktator bleibt auch dann ein misstrauischer Mensch, wenn er seine Geliebte mit in den Bunker holt. Geteilte Sicherheit bedeutet noch lange kein Vertrauen, wenn das Misstrauen allen anderen gegenüber fortbesteht. Wir machen uns verletzlich, wenn wir anderen vertrauen. Aber wir machen uns weitaus verletztlicher, wenn wir ihnen nicht vertrauen. Denn dann sind sie nichts anderes als Fremde für uns, deren dunkle Pläne wir nicht durchschauen, keine Menschen wie wir. Menschen wie wir können wir verstehen; wenn wir ihnen jedoch misstrauen, vergessen wir dies schnell. Dann entstellen wir sie zu Unmenschen und Ungeheuern. Mit Menschen, mit denen wir nicht mitfühlen können, verbindet uns nichts; deshalb werden sie leicht zum Spielball unserer verängstigten Phantasie. 

Sorgen

Sorgen beziehen sich immer auf etwas Zukünftiges, also auf etwas, das noch nicht eingetroffen ist. Deshalb ist der sich sorgende Mensch ein passiver Mensch. Er kann nichts tun, denn könnte er etwas tun, müsste er sich nicht sorgen. Wir sollten uns nur um das bekümmern, was wir durch unser Tun und Wirken verändern können. Alles andere können wir nur anbeten oder verteufeln, das heißt als unbesiegbare Autorität anerkennen.

Die Sorgen stehen selten in einem angemessenen Verhältnis zu dem, was sich  tatsächlich ereignet. Viele Sorgen sind überhaupt grotesk voluminös. Wie kommt es, dass wir es denn Sorgen gestatten, unsere Gegenwart mit Gedanken an eine Zukunft zu verdüstern, die sich ohnehin ganz anders darstellen wird? Warum opfern wir den Augenblick, in dem wir allein glücklich sein können, um an ein Morgen zu denken, das uns das Glück allenfalls zu versprechen vermag?

Nur im Jetzt können wir leben und wirken. Stellen wir uns einen Menschen vor, der glücklich gelebt und kaum jemals an die Zukunft gedacht hätte. Wie schwer könnte einen solchen Menschen ein Unglücksfall treffen? Was wäre vorzuziehen? Ein Leben in Sorge führen und es ohne größere Rückschläge vollenden? Oder es unter großen Schmerzen ganz verbrauchen im Kristallisationspunkt des ewigen Jetzt? Haben wir überhaupt diese Wahl?

Das Besorgende ist nicht nur noch nicht eingetreten, es ist zudem auch ungewiss. Wer sich sorgt, weiß nicht, was passieren wird, zieht einen ungünstigen Ausgang jedoch in Betracht. Anders verhält es sich, wenn wir wissen, dass uns etwas Schlimmes ereilen wird. Wir alle wissen, dass wir sterben werden. Darum brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir sterben könnten. Gleichzeitig glauben wir, dass unser letzter Tag noch lange nicht gekommen ist. Unser Tod ist gewiss, wir nehmen ihn für jetzt aber nicht als wahrscheinlich an. Jeden Tag könnten wir sterben, aber wir glauben nicht an den Tod - nicht an unseren Tod.

Oft empfinden wir Schuldgefühle gegenüber unseren Sorgen, weil wir ihnen zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht haben. Es beruhigt auf eigentümliche Weise, sich Sorgen zu machen. Das Ungewisse verschwindet, weil man den schlimmstmöglichen Ausgang bereits für feststehend annimmt. Da man vom Schlimmsten ausgeht, verliert die Ungewissheit ihre nervenzerfetzende Wirkung über uns. Das heißt nicht, dass irgendein Problem gelöst worden wäre, ganz im Gegenteil: Durch unsere Resignation wird es veredelt. Wir machen es zu einer Autorität über uns.

Freitag, 21. Juni 2013

Pfötchen

Ich danke dir, weil du nie an das Untier in mir glaubt hast, von dessen Existenz ich solange so inbrünstig überzeugt war. Du schrecktest nicht zurück, als ich dir von ihm mit gesenktem Blick erzählte, so als ob ich dir etwas zu beichten hätte. Nein. Du gabst mir zu verstehen, dass du nicht an meine Niedertracht glaubst. Ich dachte, dass du mich für meine Worte nur verachten könntest, doch du nahmst sie gar nicht ernst. Als ich all meinen Mut zusammennahm, sie zum ersten Male auszusprechen, lachtest du nur. Ob ich dir das übel nahm? Zunächst ja. Doch später begriff ich, dass du tiefer geblickt hattest. Danke. Du hast mir geholfen, mich in einen Atheisten des Bösen zu verwandeln. Ich glaube nicht mehr, ich sei ein böser Mensch. Wenn sich mein Untier heute noch ans Licht wagt, dann gibt es Pfötchen.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Achtsamkeit

Mich interessiert nicht, was du denkst. Was du gelesen hast und wie du es in klingende Worte zu gießen verstehst. Nein, mich interessiert einzig und allein, was du tust. Oder besser: Du solltest dich dafür interessieren. Was tust du in genau diesem Augenblick? Du fragst dich jetzt vielleicht, wozu diese Frage gut sei. Warum fragst du dich das? Weil du darauf programmiert bist, nachzufragen, wenn du etwas nicht verstehst. Du bist es gewohnt, in einer bedeutungsvollen Welt zu leben. Aber ich bin nicht daran interessiert, mit dir ein anregendes Gespräch zu führen. Solange wir versuchen, uns einander zu erklären, sind wir nicht achtsam. Wer die Wahrheit sucht, kann nicht achtsam sein. Ich werde dich nicht auf eine neue Suche schicken. Du sollst dich in Achtsamkeit üben, nicht mit Worten um dich schmeißen. Was tust du? Du sitzt vor deinem Laptop und liest diese Zeilen. Ja, das tust du. Damit hast du meine Frage beantwortet. Wichtig ist mir, dass es auch die deine ist. Du kannst nicht für mich achtsam sein.

Du sitzt also vor deinem Laptop und versuchst, meinen Sätzen irgendeinen Sinn zu entlocken. Sei ehrlich zu dir. Noch einmal: Es geht nicht darum, dass du meine Fragen beantwortest. Sie sind nur Fingerzeige, auf die du eingehen kannst. Wie fühlst du dich? Bitte sag' jetzt nicht: Gut, danke. Das ist keine ehrliche Antwort, sondern die Versicherung, dass man sich um dich keine Sorgen machen müsse. Du willst mich mit dieser Antwort beruhigen. Doch wenn du ehrlich in dich hineinfühlst, was entdeckst du dann? Ein schlichtes rotwangiges Wohlbefinden? Oder nicht doch etwas ganz anderes? Bitte suche jetzt nicht nach einer Antwort, von der du meinst, dass sie mich zufriedenstellen könnte. Suche auch für dich selbst keine Antwort, die du, zum Beispiel als witzige Sentenz, überallhin mitnehmen könntest. Du kannst nichts mitnehmen. Nichts, was du jetzt fühlst, wird diesen Augenblick überlegen, es sei denn als Karikatur. Schon wenn du mir sagtest, was du fühlst, wärst du damit schon über dein Gefühl weit hinaus.

Mittwoch, 19. Juni 2013

Der erste Flügelschlag

Die letzten Tränen,
Verspielt verteilt
Auf deiner Haut,
Der alten, jungen, schönen,
Sind geronnen zu Kristallen,
Darin ein Träumen,
Gebrochen und verfallen,
Sich der eignen Schönheit schämt.

 Sie hätten singen sollen,
Deine Seele.
Doch sie lernte es zu spät.
 Schon Nacht war es,
Als sie beschloss,
Den ersten Flügelschlag zu tun.

 
 



                                            





Dienstag, 18. Juni 2013

Autoritäten

Schon von Kindheit an sind wir es gewohnt, Autoritäten über uns zu haben. Zuerst sind es die Eltern, die uns manipulieren, das heißt erziehen. Dann kommen diverse Lehrer und Erzieher hinzu. Auch später, wenn aus uns Auszubildende, Studenten oder Arbeitnehmer geworden sind, bleibt es dabei: Immer haben wir jemanden über uns, von dessen gütigem Urteil unser Fortkommen abhängt. Selbst die Freiesten müssen sich Gesetzen beugen, die sie nicht beschlossen, und eine Politik erdulden, die sie mit ihrer Stimme nicht unterstützt haben. Wer seid ihr eigentlich, dass ihr über uns regieren dürftet? Wie könnt ihr euch anmaßen zu meinen, ihr könntet uns irgendetwas beibringen? So fragen sie. 

Die Dozenten sagen nicht: Ich will dir helfen, damit du deinen Weg findest. Sie sagen: Wir möchten, dass du in unsere Sprechstunde kommst, damit wir noch einmal über die Arbeit reden können. Damit du die formalen Vorgaben kennst, einhältst und weißt, wie viele Bücher du mindestens in deinem Literaturverzeichnis aufführen musst. Unter diesen Vorzeichen mag es nicht verwundern, dass viele Menschen es als ganz natürlich ansehen, ja sogar darauf bestehen, beherrscht und ausgebeutet zu werden. Sie kennen es eben nicht anders. Immer war ja jemand da, der ihnen gesagt hat, was sie tun sollen. Dies verrät sich ganz naiv in Formulierungen wie dieser: An irgendetwas muss der Mensch ja glauben. Dass es irgendeine Autorität geben muss, haben diese Menschen derart verinnerlicht, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen können, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie wissen nicht, was es heißt, nur den Himmel über sich zu fühlen.

Sonntag, 16. Juni 2013

Die Wüste des Schweigens

Wenn wir besser über die Menschen dächten, hätten wir keinen Grund mehr, Angst vor ihnen zu haben. Die Gefahr, dass uns eine gefährliche Wahrheit über die Lippen rutschen könnte, würde dann nicht mehr bestehen. Und wenn sie doch einmal ans Licht käme, so wäre diese Wahrheit alles andere als gefährlich. Sie wäre schön. An jemanden mit einem warmen Lächeln denken zu können, ist ungemein befreiend. Warum verschwenden wir unsere Zeit, um uns einander unsere Fehler vorzurechnen? Warum denken wir so viele destruktive Gedanken, von denen wir doch wissen, dass wir sie niemals werden äußern können, ohne uns Feinde zu machen? Also wächst die Wüste unseres Schweigens ... Ein großer Teil unseres Unglücks erklärt sich aus der Undiszipliniertheit, mit der wir zu denken pflegen. Wir können denken, was wir wollen, denken aber meist nur, was wir eben denken. Jedem Zweifel wird sofort das Türchen aufgemacht. Man gibt ihm gerne die passenden Worte, in die er sich wie in einen gut gefütterten Pelzmantel kleidet. Dabei könnten wir ebenso gut jene Gedanken kultivieren, die uns und anderen guttun. Die uns ein wenig mehr in einen jener Menschen verwandeln, an die man mit einem Lächeln denken mag.

Samstag, 15. Juni 2013

Sieben Minuten

Seit Hannie dem Debattierklub beigetreten war, hatte sich ihre Beziehung zu Felice sehr verändert. Schon bei ihrem ersten Besuch entdeckte Hannie ihre Leidenschaft für's Debattieren. Sie galt zwar als eher schüchtern und verschlossen, doch wenn sie fühlte, wie die gespannten Blicke auf ihr lagen, verwandelte sie sich. Die Erfahrung, dass sich jeder aufmerksam ihrer Worte anhören würde, war ihr völlig neu. Es war ihre Redezeit, sie konnte damit machen, was sie wollte. Wenn sich ein Mitglied der Opposition hinstellte und den Arm hob, um eine Zwischenfrage zu stellen, konnte sie ihn einfach warten lassen. Sie genoss es, die Redner der Opposition, die ihr so gerne widersprochen hätten, nicht zu Wort kommen zu lassen. Das gab zwar Abzüge in ihrer Wertung, doch das kümmerte sie wenig. Sie empfand ihr Verhalten alles andere als unfair. Sie hatte genug gelitten, jetzt sei sie eben an der Reihe. Sie bestand darauf, dass man ihr und nur ihr zuhörte. Normalerweise interessierte sich fast niemand für das, was in ihrem Kopf vorging. Mit Ausnahme von Felice. Diese sieben Minuten aber würden ihr und nur ihr gehören, von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Nach der ersten Debatte unterhielten sich Hannie und Felice über Sinn und Unsinn des Debattierens. Sie waren den anderen Debattanten in deren Stammlokal gefolgt, um die losen Kontakte, die aus ihrem Besuch entstanden waren, gleich ein wenig festzuzurren. Den Tisch teilten sie mit mit Damian, einem ambitionierten BWL-Studenten, der zuvor mit großer Inbrunst für den moralischen Wert der Prostitution argumentiert hatte. Felice langweilte sich schnell, während Hannie Damian nach jeder seiner Klausurnoten des vergangenen Semesters fragte, um nur irgendwie in ein Gespräch hineinzukommen. Der genoss es sichtlich, von sich das Bild eines werdenden Leistungsträgers aufzubauen. Kurzum, Hannie und er verstanden sich sehr gut, allerdings ohne einander etwas zu sagen zu haben. Endlich, nachdem sie ihre dritte Zigarette verbraucht hatte, mischte sich Felice ein. "Wenn ich diskutiere, dann möchte ich auch meine eigene Meinung vertreten und nicht einer Partei zugelost werden. Zwar halte ich es auch für wichtig, die andere Seite ernstzunehmen, ich würde aber niemals für eine Sache streiten, an die ich nicht glaube." Dieses Argument kannte Damian. Gelassen und selbstbewusst erwiderte er: "Ein Debattierklub íst ein Ort, an dem du deine Selbstdarstellung verbessen, an deiner Rhetorik feilen und viele interessante Leute kennenlernen kannst. Wenn du an deinen Meinungen klebst, bist du hier falsch. Dann solltest du lieber in die Politik gehen." Diese Worte verletzten Felice. So als suchte sie Hilfe, blickte sie in Hannies Richtung. Ihre Freundin aber schaute Damian mit leicht geöffnetem Mund von der Seite an. Scheinbar wollte sie etwas sagen, doch als ihr Felices Hilflosigkeit bewusst wurde, hielt sie ihre Worte zurück. Das junge Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Die nächsten Wochen ging Hannie allein zum Debattierklub. Felice hatte zwar ein vernichtendes Urteil über Damian und einige andere Klubmitglieder gesprochen, sie unter anderem als oberflächlich und eingebildet bezeichnet, doch Hannie berührten diese Worte überhaupt nicht. Im Gegenteil glaubte sie, dass es Felice schlicht an dem nötigen Selbstbewusstsein mangele, um beim Debattieren glänzen zu können, und dass sie deswegen so schlecht über den Klub dachte. Sie nahm sich vor, Felice dies zu sagen. Doch ihren Vorsatz vergaß sie schnell, spätestens dann, als sie ihren zweiten Auftritt hatte. Damian war auch wieder da. Er lachte sie an. Nicht nur er. Vielleicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie attraktiv sie eigentlich war. Es war ihr egal, für welche Seite sie streiten sollte. Man würde ihr zuhören. Jedes ihrer Worte mit Wohlgefallen prüfen und, wenn es sein musste, hart kritisieren. Aber selbst die Kritik nahm sie gern an, erblickte sie in ihr doch so etwas wie Neckerei. Was sich neckt, das liebt sich. Alle widersprachen, sprich: neckten sie, ergo: Alle liebten sie. Mit einer unglaublich gehobenen Stimmung verabschiedete sie sich gegen zwei Uhr von Damian, Ilja und Stefan. Alle drei hatten ihr ihre Nummern gegeben. Unschlüssig, wen sie anrufen sollte, torkelte sie durch die bis dahin glücklichste Nacht ihres Lebens. Glücklichere würden folgen, da war sie sich sicher. Vor allem weniger einsame.

Sie ärgerte sich, ihr Glück nicht mit Felice teilen zu können. Diese hatte es vorgezogen, einen ruhigen Abend zu Hause zu verleben. Hannie ging ihren Gefühlen nach, ordnete sie. Zunächst wollte sie es sich nicht eingestehen, doch es stimmte: Sie empfand Felice als Last, als Bremse ihres Glücks. Solange sie sich selbst zurückgenommen und sich auf einer schüchtern-liebenswerten Stufe mit Felice gesehen hatte, war ihr dieses Gefühl noch nicht untergekommen. Also immerhin schon über sieben Jahre nicht. Sie begann, sich Fragen wie die folgenden zu stellen. War Felice im Grunde nicht ein seltsames Mädchen? Kann man mit einem Menschen mit latent depressiver Charakterstruktur überhaupt befreundet sein, ohne sich selbst runterzuziehen? Wie soll eine Freundschaft lebendig bleiben, wenn man nur das Leid des anderen teilen kann, mit dessen Glück und Euphorie aber nichts anzufangen weiß?

Freitag, 14. Juni 2013

Sentimentalität

Über die Liebe zu schreiben, setzt immer schon den Mangel an Liebe voraus. Denn unweigerlich muss man sich fragen, wie das, was man schreibt, wirkt. Solange ich mir diese Frage stellen, kann ich den Menschen, dem ich schreibe, nicht lieben. Die ruhig abwägende, nach idealem Ausdruck verlangende Ambition zerstört jedes Gefühl. Sentimentalität bedeutet, dass man nach Worten sucht, um ein Gefühl auszudrücken. Dieses Suchen ist möglich, weil sich das Gefühl nicht spontan und ungezwungen in Worte gießen darf. Immer muss es zunächst den Kontrollposten der sprachlichen Selbstzensur passieren, was oft mit vielen Schikanen verbunden ist. Dadurch verliert es seine Unmittelbarkeit und Wahrheit. Weil wir nicht lieben können, legen wir so viel Wert auf die Sprache. Mit ihrer Hilfe vermögen wir den Eindruck zu erwecken, wir würden aus ganzem Herzen lieben, obwohl wir innerlich schon lange tot sind und jedes Wort peinlich genau abgewogen haben. 

Sobald man merkt, dass man nach den richtigen Worten suchen muss, darf man sich sicher sein, dass man sie nicht finden wird. Man fühlt dann nichts. Wie schön die Worte auch sein mögen, die uns dann über die Lippen gehen, sie werden falsch und leer sein. Sie sind eben nur schön. Dass wir tatsächlich etwas fühlen, ist selten. Vielleicht sollten wir uns das einfach eingestehen und andere nicht verurteilen, weil sie "gefühllos" sind. Wir sagen so vieles, das unserem Gefühl widerspricht, nur um andere nicht zu verletzen und uns selbst zu beruhigen. Wir sind unaufrichtig, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass die Gefühllosigkeit, die wir an anderen tadeln, unsere eigene ist. Ja, es ist wirklich so schlimm um uns bestellt. Aber sollten wir uns deshalb gleich aufhängen?

Donnerstag, 13. Juni 2013

Nie aufgehört

Warum schreibst du, dass du komplett versagt hättest? Wir versagen, weil wir unseren Ansprüchen nicht gerecht geworden sind. Aber müssen wir den Ansprüchen denn unbedingt gerecht werden, um uns gut fühlen zu dürfen? Unsere Biographien sind verworren, unzusammenhängend und rätselhaft. Viele Erinnerungsfetzen warten noch darauf, entdeckt und geborgen zu werden; anderes wird sich unserem Geist wohl auf ewig entziehen. Na und? Wir leben jetzt, genau in diesem Augenblick! Wir atmen. Unsere Herzen schlagen. Ja, tatsächlich! Kannst du es spüren? Du lebst, weil es jetzt schlägt, nicht vor einigen Jahren oder Monaten. Es hat nie damit aufgehört. Auch in den schwärzesten Stunden hatte dein Herz immer fleißig seine Pflicht getan, denn immer wusste es: Da kommt noch was! Deine Verzweiflung behauptete zwar, dies Herz sei gebrochen; doch das waren nur Worte. Es lebt, es tanzt, es schlägt - heute mehr denn je!

Wenn dich deine Tochter anlächelt, blickt sie dann in das Gesicht einer Versagerin? Natürlich nicht! Sie ist glücklich, dass sie dich hat. Sie lässt dich nicht über die Klinge irgendeines kalkulierendes Anspruchsdenken springen. Ihr Blick ist noch frisch, ungebrochen, klar. Sieht sie denn weniger als jene, von denen man sagt, dass sich wissen, wie der Hase läuft? Weniger als jene, die resigniert in ihren Winkeln hocken und die Welt mit ihren immergleichen Sprüchen ausdeuten? Hast du nur ein kleines, unwissendes Wesen vor dir, wenn du sie anschaust? Oder glänzt in ihren Augen nicht etwas ganz anderes, eine tiefere Weisheit? Du nennst sie deine kleine Lehrmeistern. Sie hat dir mit einem Lächeln tief ins Herz gesehen, tiefer noch als selbst das verletzendste Wort jemals dringen könnte. In jenes Herz, das nie zu schlagen aufgehört hat ... Spürst du es?

Dienstag, 11. Juni 2013

Reinkommen!

Woher kommt dieser merkwürdige Drang, jede Frage erst auf einer theoretischen Ebene zu beantworten, bevor man sich ins kalte Nass der Wirklichkeit zu stürzen wagt? Das Leben ist anders. Es ist dreckig, widersprüchlich, traurig und schön. Wir sollten unsere Ahnungslosigkeit fröhlich bekennen. Wenn du jemanden triffst, der sich an einer Aufgabe versucht, an der er scheitern muss, lass' ihn scheitern! Ermuntere ihn noch dazu! Nähre ihn mit falschen Hoffnungen! Es ist wichtig, zu scheitern! Die Grenzen, die wir meinten, auf ewig sichern zu müssen, haben ihren Schrecken längst verloren. Verrückt alle Grenzsteine! Reißen wir Horizonte ein! Unter welchen Himmeln werden wir noch wandeln? Welche Lieder werden wir einst singen? Von welchen Hoffnungen werden unsere Melodien erzählen? Hört ihr sie schon? Leise? In euren Herzen? Wer wüsste heute schon zu sagen, was das Wort Liebe einmal in unserem Munde bedeuten wird? Hass? Glaube? Wir kennen uns ja gar nicht! Wollen wir uns denn kennenlernen? Wichtig ist nur, dass wir anfangen, irgendwo und irgendwie. Es muss kein schöner Anfang sein. Dass wir reinkommen, darauf kommt es an. Ein Zeichen setzen! Das Revier markieren! Saubermachen können wir auch noch hinterher!